Die Autorin Attica Locke gibt es nun auch im Taschenbuch. In Kooperation mit dem Polar Verlag, wo die Romane zuerst erschienen sind, startet der Unionsverlag Zürich eine Taschenbuch-Edition. Anlass genug, die Autorin hier vorzustellen.
Widerstandsgeist und ein Wissen um den Rassismus in den USA wurden der Schriftstellerin Attica Locke buchstäblich in die Wiege gelegt. »Ich bin schwarze Amerikanerin. In unserer Geschichte gibt es noch so viel, das nicht erzählt wurde«, sagt sie. Ihre Eltern, beide schwarze Bürgerrechts-Aktivisten, gehörten Ende der 1960er/ Anfang der 1970er zu jenen, die für eine bessere Gesellschaft auf die Straße gingen. Ihre Tochter benannten sie nach dem Gefängnisaufstand in der Attica Correctional Facility im US-Bundesstaat New York, bei dem 1971 insgesamt 43 Menschen ums Leben kamen. Auslöser für diesen bis heute blutigsten Gefängnisaufstand in der Geschichte der USA war die Ermordung des schwarzen Aktivisten George Jackson im San Quentin State Prison gewesen.
Attica Lockes Roman »Bluebird, Bluebird«, der die Taschenbuchausgabe ihrer Werke einläutet, wurde bereits mit Preisen überschüttet, gewann den Edgar Award als bester Roman, den Ian Fleming Steel Dagger der englischen Krimautoren, dazu den Anthony Award, und wurde von mehr als einem Dutzend Zeitungen zum besten Krimi des Jahres gekürt. Als Hauptfigur hat das Buch einen höchst ungewöhnlichen Helden – nämlich den schwarzen Texas Ranger Darren Mathews. Heute wissen wir, dass es schon im Wilden Westen (einige wenige) schwarze Sheriffs gab. Attica Locke reklamiert als Motiv für sich wie gleichzeitig auch für ihre Figur einen gehörigen Schuss Selbstbehauptung. Ihr schwarzer Marshall sagt: »Die Marke macht klar, das ist auch mein Grund und Boden, mein Staat, mein Land, und ich laufe nicht davon. Ich stehe hier meinen Mann. Meine Leute haben das hier aufgebaut, und wir gehen nirgendwohin.«
Der Roman entstand 2016. Damals war Obama noch Präsident. Der Name Trump wird in dem Buch nur einmal erwähnt, nämlich als ein Wahlplakat von ihm auf einer Feldscheune prangt. Attica Lockes ursprüngliches Motiv war es, einen Roman über den Rassismus im Süden der USA zu schreiben, in der Hoffnung aber, von etwas zu erzählen, was am Verschwinden schien. Der Wahlsieg von Donald Trump brachte dann jedoch, so die Schriftstellerin, »die bittere Wahrheit über Rassenhass und rassistisch motivierte Gewalt ans Tageslicht«. Ihr Buch habe dadurch eine unerwartete Dringlichkeit bekommen, fast unheimlich sei ihr das damals gewesen.
Nicht alle Romane vermögen es, einen Realitätstest zu bestehen. »Bluebird, Bluebird« ist heute dringlicher und wahrer denn je. Ist keinen Tag veraltet. Wie alle große Literatur transportiert das Buch Wahrheit und Anschauung, hat bei aller Genauigkeit von Zeit und Ort etwas Zeitloses. Mustergültiges.
Ort des Romans ist das (fiktive) Städtchen Lark im osttexanischen Shelby County, das an Louisiana grenzt und damit quasi schon zum Süden der Vereinigten Staaten gehört. Früher gab es hier eine Plantage. Heute ist es immer noch selbstverständlich, dass überall ganz ungeniert auf den Klu Klux Klan und seine drei K angespielt wird, etwa mit dem Namen »Kay’s Kountry Kitchen« für ein Lokal.
Zwei Lokale sind es, die in Lark sozusagen die entgegengesetzten Pole bilden. Da ist an einem Ende des Ortes das »Eishaus«, eine Bar, die Schwarze lieber meiden sollten. Der Geschäftsführer gehört zur Arischen Bruderschaft von Texas, einer offen rassistischen Neo-Nazi-Gang, die auch im Drogen- und Waffenhandel aktiv ist. Dort in der Nähe wird die Leiche eines Schwarzen gefunden: in der Gegend geboren und aufgewachsen, inzwischen als Anwalt in Chicago tätig. Und da ist am anderen Ortsende das »Geneva’s«, einst das erste Café der Gegend, in dem Schwarze einkehren konnten. Es wird von Geneva Sweet betrieben. Wenige Tage nach der ersten Leiche wird hinter ihrem Café eine junge Weiße, die im Eishaus arbeitete, tot aus dem Fluss geborgen.
Texas Ranger Darren Mathews, gerade suspendiert, aber hier trotzdem der Ermittler, vermutet eine Verbindung zur Aryan Brotherhood of Texas: weiße Texaner, die sich für Arier halten, für Hitler schwärmen und sich mit Drogenhandel finanzieren. Mathews trifft auf einen ihm feindlich gesonnenen weißen Sheriff, auf den rassistischen Ehemann der Toten und auf die äußerst launische Witwe des toten Anwalts, die extra auch Chicago einfliegt, um herauszufinden, was ihrem Ehemann zugestoßen ist. Mathews findet es seltsam: »Normalerweise wurden die Geschichten aus dem Süden in umgekehrter Reihenfolge erzählt: Auf eine weiße Frau, die getötet worden war oder anderweitig Schaden genommen hatte, tatsächlich oder eingebildet, folgte, wie der Mond der Sonne, der Tod eines Schwarzen. Hier war es anders herum.«
Einfache Wahrheiten gibt es nicht in diesem Roman. Was auf den ersten Blick wie ein doppeltes Hassverbrechen in einem kleinen Ort aussieht, entpuppt sich als ein komplizierter Fall. Die stimmungsvolle, mit enormem Einfühlungsvermögen erzählte Geschichte führt tief in die Vergangenheit, in ein kompliziertes Geflecht aus Liebe, Eifersucht und Hass. Attica Locke gelingt ein eindringliches Gesellschaftsbild der USA. Gleichzeitig eine Liebeserklärung an ihre Heimat.
Der Roman ist Teil 1 von Attica Lockes »Highway 59«-Trilogie. Die 1934 gebaute Straße führt von der kanadischen Grenze bis zur mexikanischen, durchquert die Staaten Texas, Arkansas, Oklahoma, Kansas, Missouri, Iowa und Minnesota und läuft 631 Meilen durch Texas, von Laredo bis Houston und Texarkana. Sie führt durch ein Texas, das nicht viele kennen und das auch nicht unbedingt allen Klischees entspricht. »Denken Sie an Kiefern und Bäche statt an Kakteen und Wüste«, sagt Locke. »Und an Schwarze Sheriffs.«
Hier ein kleines Interview mit ihr:
Frage: Warum ein Texas Ranger? Und dazu ein Schwarzer?
Attica Locke: Warum nicht? Schon im Wilden Westen hat es schwarze Sheriffs gegeben. Nicht viele, aber es gab sie. »Lawman Sam Bass« hat es ja jetzt dank des »Yellowstone«-Schöpfers Taylor Sheridan sogar zu einer eigenen TV-Serie gebracht. Ich weiß nicht, ob sie in Deutschland schon zu sehen ist. – Ich wollte für meine Trilogie relative Bewegungsfreiheit. Texas Ranger haben einen viel größeren Zuständigkeitsbereich als andere Strafverfolgungsbehörden. Und außerdem wollte ich Ost-Texas in meiner Handlung haben. Meine ganze Familie kommt aus dem östlichen Texas und aus kleinen Orten entlang des Highways 59. Das ist ein wichtiger Teil meiner Lebensgeschichte. Ich wollte über die Schwarzen in Ost-Texas schreiben. Die Meisten denken bei Texas Rangers vermutlich an jemand wie Chuck Norris. Ich will, dass man bei Texas, Cowboys und Polizisten auch an Schwarze denkt.
Frage: Trilogie heißt, wir werden den Texas Ranger Darren Mathews noch öfter sehen?
Ja, »Heaven, My Home« ist das zweite Buch meiner Highway-59-Trilogie. Bei euch erscheint es im Juli als Taschenbuch. Im Herbst 2024 kommt in den USA Buch 3 heraus. Es heißt »Guide Me Home«.
Dieser Buchtitel klingt wieder wie ein Blues Song. Liege ich da richtig?
(lacht) Ja, das ist ein Song von Big Mama Thornton & Muddy Waters Blues Band.
Und die anderen Romantitel?
»Heaven, My Home« ist ein berühmter Protestsong der Bürgerrechtsbewegung, gesungen unter anderem von Ella Fitzgerald, von den Freedom Singers, von Johnny Cash oder von Taj Mahal. »Bluebird, bluebird, take this letter down South for me …« ist ein Song von Lightnin‘ Hopkins, den dann auch John Lee Hooker interpretiert hat.
Was bedeutet Ihnen der Blues?
Bluesmusik gibt mir das Gefühl, enger mit dem verbunden zu sein, wo ich herkomme. Wenn ich schreibe, höre ich immer Musik. Sie hilft mir beim Schreiben. Sie bringt mich in die richtige Stimmung zu kommen, sie nährt mein Herz und gleichzeitig meinen Verstand. Ich denke – und hoffe –, dass der Blues mir auch dabei hilft, einen poetischen Stil zu finden. Dass er mich mehr zu einer Poetin macht. Songs verstärken für mich das Gefühl für einen Ort, deshalb kommen immer Songs in meinen Büchern vor. Und weil wir von Lightnin’ Hopkins sprachen: Er ist meine Muse. Seine Musik klingt so, wie ich gerne auf dem Papier sein will: ehrlich, weise, lustig und smart.