Der Chronist der Revolutionen: Zur Ausstellung des Werks von Honoré Daumier im Städel

Und wenn es nur ein einziges Werk gäbe, um ätzende Gesellschaftskarikatur auf den Punkt zu bringen, dann wäre es »Gargantua« von Honoré Daumier, auf dem eine gefräßig fette Doppelbirne mit den Gesichtszügen des Bürgerkönigs Louis-Philippe sich die Abgaben der hart arbeitenden Bauern in den aufgesperrten Rachen schieben lässt und gleichzeitig Adels- und Besitztitel für seine Günstlinge ausscheidet. Le Poir – bedeutet auf Französisch Tölpel, la poire – die Birne. Was für ein starkes Stück.
Es gehört jetzt dem Städel.
Zu seinem 125. Geburtstag hat das Museum nämlich ein überaus wertvolles Geschenk erhalten: die weit über 4.000 Werke umfassende Sammlung des Anwalts Hans-Jürgen Hellweg, der über Jahrzehnte hinweg mit Hingabe, Hartnäckigkeit und Akribie Lithografien des französischen Karikaturisten, Bildhauers und Malers Honoré Daumier erwarb. Es ist auch ein blendendes Lehrstück über Europa, welches dem Städel da zugewachsen ist.
Der Humanismus von Daumier gleicht in seiner Auffassung von mitfühlender Menschlichkeit und scharf gemünzten republikanischen Ansichten dem eines anderen Großen seines Metiers, des Schriftstellers Victor Hugo (1802–1885). Kein Wunder, dass sie befreundet waren. Beide sind sie Kinder der französischen Revolution, Zeitzeugen einer der umwälzendsten Perioden französischer Geschichte, und sie fassten sie in Kunst als glühende Repräsentanten der »L’art pour la morale« statt »L’art pour l’art«.
Dem aus ärmlichen Verhältnissen stammende Daumier, der, als sein Vater verstarb, schon als Jugendlicher eine neunköpfige Familie ernähren musste, ist Gerechtigkeitssinn und ein moralischer Kompass quasi mit in die Wiege gelegt worden. Und der Witz, das Können und die Unerschrockenheit folgten gleich darauf. Der im Jahr 1808 Geborene war kommentierender Chronist der tiefen gesellschaftlichen Umbrüche dieses stürmischen Wellengangs von aufeinander wechselnden Revolutionen, die auf den gesamten europäischen Kontinent übersprudelten. In Frankreich verfingen sie sich in dem Autoritarismus des Bürgerkönigs Louis-Philippe und zersplitterten dann erneut in revolutionärem Aufruhr. All diese Zustände griff Daumier mit spitzer Feder auf, kommentierte sie, stellte bloß, attackierte, bannte Lebenswirklichkeiten in szenische Porträts. Daumier, der mit 22 Jahren selbst bei den Pariser Juniaufständen auf den Barrikaden stand, nutzte seine Kunst als Waffe. Seine Bühne war die Presse, sein künstlerisches Mittel zumeist die Lithografie, ein neues Medium, in dem sich der bisherig autodidaktische Zeichner schulen ließ und das sich hervorragend für die Verwendung in Zeitungen eignete.
Die freie Presse als Instrument der Orientierung und Wirklichkeitsfindung war gerade erst erobert worden, da unterlag sie schnell wieder der staatlichen Zensur, so dass man adäquate Wege austüfteln musste, um seine sprechende Kritik trotzdem zu verbreiten – was Daumier zweifelsohne sehr gut gelang. Sein Gegenmittel: die bildnerisch kraftvolle Genre-Karikatur, mit der man soziale Missstände, Armut, Kinderarbeit, Verwahrlosung, das Leben am Boden der Gesellschaftsordnung geißeln konnte. Auch das ist politische Anklage. In den 43 Jahren der Karriere erlebte Daumier nur zehn ohne staatliche Gängelei. Über 4.000 Lithografien hat er allein für die gesellschaftskritischen Satire- Blätter »La Caricature« und »Le Charivari« seines Freundes und Auftraggebers Charles Philipon geschaffen, die eine hohe Auflage genossen.
Die Schau im Kabinett des Städel, die nun eine Auswahl von 120 Werken aus der Sammlung Hellwig präsentiert, mäandert durch alle Epochen seines Schaffens und gruppiert sie schlaglichthaft um folgende Themen: »Anklage und Angriff«, »Menschliches, Allzumenschliches«, »Studien« (in denen sein Vorbild Francisco de Goya durchscheint), »Aufruhr und Aufbruch«, z.B. Und, heute vielleicht am visionärsten: »Spannungen in Europa«.
Man kann die Lithografien, Plastiken und Zeichnungen selbstverständlich »nur« als Bilder lesen, doch die Texte im Audioguide verschaffen dem Werk den historischen und politischen Kontext. Vieles ist aber auch sehr wohl ohne eine konkrete Zuordnung zu verstehen: »Der gesetzgebende Bauch«, eine Versammlung genüsslich zugespitzter Porträts von dösenden, fetten, uninteressierten Vertretern des Gesetzes hat universelle Gültigkeit, ebenso wie seine Anklagen gegen den Krieg. Ein auf der Weltkugel balancierendes Europa, die sich auf den zweiten Blick als Granate mit gezündeter Lunte entpuppt, hat eine fast schaurige Aktualität.

Susanne Asal
Foto: Honoré Daumier (1808–1879): Rue Transnonain, le 15 avril 1834, © Privatsammlung
Bis 12. Mai: Di., Mi., Fr., Sa., So., 10–18 Uhr; Do., 10–21 Uhr
www.staedelmuseum.de

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