Der existentielle »Noir«-Roman »Kerbholz« von Carl Nixon

»Das Auto mit den drei schlafenden Kindern verließ die Erde. Vom Rand der bewaldeten Steilküste, an der sich die vom Regen glatte Straße in die so tückische Kurve krümmte, bis hinab zum reißenden Fluss am Fuß der Klippen waren es fast zwanzig Meter. Es schien kein Mond in dieser Nacht, niedrige, bleierne Wolken verdeckten den Himmel. Für den Bruchteil – eines Bruchteils – eines Augenblicks hing das Auto wie schwebend in der Luft. Sehr bald würden die Kinder anfangen zu fallen. Hinab auf die Wipfel der Bäume. Hinab auf das zwischen den Felsbrocken entlangrauschende Wasser. Der Zukunft entgegen.«

97 Wörter, 600 Zeichen. Eines der seltsamsten Anfangskapitel, das ich je gelesen habe. Auftakt zu einem unglaublich intensiven Buch.
Ein Auto stürzt in einer Regennacht in eine Schlucht, in einen Gebirgsfluss. Die drei schlafenden Kinder im Auto fallen – der Zukunft entgegen. Zukunft! Steht da, unmissverständlich. Aber erst einmal ist der Sturz, dieser eine Fall-Moment, in dem sich die Zeit zu einer Blase zieht, den Ambrose Bierce 1890 als erster Literat in seiner Kurzgeschichte »Zwischenfall auf der Eulenfluss-Brücke« erzählerisch eingesetzt hat. Der Moment, in dem die Zeit sich verlangsamt, beinahe stillsteht. Wie eine Klinge saust das von der Straße abkommende Auto zwischen Baumstämmen hindurch, verfehlt einen Granitfelsen, schießt vorwärts. In die Luft. Wo es hängen bleibt. »Es stimmt also«, denkt sich der Vater. »Zum Ende hin verlangsamt sich alles.«
Aus seinen letzten Eulenbrücken-Momenten wissen wir: Sie sind eine sechsköpfige Familie aus England, auf Neuseelands Südinsel an der wilden Westküste unterwegs, ehe der Vater den neuen Job in Wellington antreten wird. Die letzten drei Tage hatten sie nichts als Regen, unerbittlichen Regen gehabt. Tropfen so groß wie Murmeln. Monsunregen. Dazu hinter Wolken verborgene Berge und halb gare Pommes. »Hätten sie Eintritt bezahlt, er hätte sein Geld zurückverlangt.«
Aber dies wird keine Touristengeschichte, keine Prospekt taugliche Neuseelandtour. Dies wird ein existentieller »Noir«, elegant, unerbittlich genau und balanciert erzählt. Mit Donnerhall bis zur letzten Seite.
Es gibt auch noch ein Baby, vorne bei der Mutter. Aber die vorne überleben nicht. Nur die Kinder hinten: Maurice, Katherine, Johnny. Oben auf der Straße spült der Regen die Wagenspuren fort. »Es war wie ein Zaubertrick. Nach nur fünf Tagen in diesem Land hatte sich die Familie Chamberlain in Luft aufgelöst. Es war der 4. April 1978.«
Die drei Geschwister können sich befreien, Maurice am Bein verletzt, Tommy wegen eines Schädelbruchs kaum ansprechbar. Katherine übernimmt das Kommando. Sie weiß, sie müssen aus dem Regen. Sonst sterben sie. Wir sind am Ende von Kapitel 1 und auf Seite 25.
Dann steht da: 14. November 2010 und Kapitel 2. In einem Haus in London klingelt das Telefon, es ist ein offizieller Anruf: die diplomatische Vertretung Neuseelands im Vereinigten Königreich mit der Mitteilung, dass ein Doktorand, der eine Möwenkolonie an der Küste erforscht, menschliche Überreste gefunden hat, die als die von Maurice Chamberlain identifiziert worden sind. Suzanne, deren Schwester und Schwager mit ihren Kindern vor 32 Jahren verschwand, hat auf eigene Faust schon auf vier Reisen zur Südinsel nach ihnen gesucht. Ergebnislos.
Das nächste Kapitel hat uns wieder ganz nah bei den Kindern, unter einer nassen Decke, unter einem Baum, immerhin ein wenig geschützt. Meter für Meter und Stunde für Stunde, sind wir jetzt für 20 Seiten beim Überlebenskampf der Kinder nach dem Absturz dabei. Dann führt Kapitel 5 in einen Hangar auf einem Militärflugplatz in Essex, gut acht Wochen nach dem Londoner Anruf. Es ist der 21. Januar 2011. Die Überreste von Maurice kamen als Militärfracht. Kostengünstig. Suzanne bekommt sie überreicht. Die Rolex ihres Schwagers ist dabei, und ein Stück Holz, etwa einen halben Meter lang, silbrig und eisenhart, mit Einkerbungen wie ein Kalender. (Es ist das Kerbholz des Titels. Aber da wissen wir noch nicht um seine Bedeutung.) Der Polizeibericht, der auch Röntgenbilder verglich, macht klar, dass Maurice bei seinem Tod 17 oder 18 war. Er hatte also noch vier Jahre nach seinem Verschwinden gelebt. Gefunden hat man ihn weitab jeder Siedlung.
Wieder sind wir 20 Seiten bei den Kindern. Im Busch. Allein. Drei Nächte lang. Am vierten Tag taucht ein Jäger mit seinen Hunden auf.
»Wo lebt’n ihr Leute?«
»In England. London. Wir sind erst ein paar Tage hier.«
»Du meinst hier im Westen?«
»Nein, in diesem Land.«
»Habt ihr Sippschaft hier?
Verwandte. Menschen, die wissen, wohin ihr unterwegs wart, die nach euch suchen?«
»Nein.«
Der Mann nimmt sie mit, quer durch die Wildnis, legt sich den fiebrigen Maurice über die Schultern.
Jeder Ort, den sie erreichen, scheint erst durch ihre Ankunft ins Leben gerufen. Sobald sie weitergehen, verschwindet auch dieser Teil des Waldes wieder. Sie werden »niemals alleine zurückfinden, nicht in hundert Jahren«. Der Mann führt sie in ein Tal. Es dehnt sich endlos aus. »Unbefugte werden erschossen«, steht auf einem Schild. »Willkommen im Paradies«, sagt der Mann. Katherine denkt, vielleicht ist es der Name des Tals. »He, Martha?«, ruft der Mann zu einem wie verlassen stehenden Haus hinüber. »Bist du drin, Weib?«
Sie sind da. Sind an einem Ort, den sie nicht mehr verlassen werden. Sie sind da, wo das Kerbholz gilt. Wir sind auf Seite 111. Noch 190 Seiten in einer Welt, die uns, die wir als Touristen mal ein wenig »in die Wildnis« gehen, abgrundtief fremd ist. »Neuseeland war das letzte Land der Welt, das von Menschen besiedelt wurde. Mich interessiert der historische Prozess, wie Menschen nach Neuseeland kommen und dann durch das Land verändert werden. In meinem Roman sind es drei Kinder aus der englischen Oberschicht, die plötzlich auf sich allein gestellt mit dieser rauen Landschaft und den Bedingungen, die sie dort vorfinden, zurechtkommen müssen«, sagt Carl Nixon. »Mir schien dies ein Spiegelbild der Geschichte Neuseeland zu sein.«
Carl Nixon, Jahrgang 1967, ist einer der größten lebenden Autoren down under. Gleich sein erster Roman »Rocking Horse Road« war auch in Deutschland ein Erfolg (2012 bei uns besprochen). »Kerbholz« schrieb er als »Katherine Mansfield Fellow« mit einem nach der größten neuseeländischen Schriftstellerin benannten Stipendium – und er zeigt sich ihrer würdig. Der Roman ist sozusagen sein persönliches, der Literaturgeschichte (nicht nur) Neuseelands geschuldetes Kerbholz. Das war/ist ein mit Einkerbungen über Schulden markiertes Holzstück, für Schuldner und Kreditgeber als Beweisstück in zwei Teile gespalten. Der Ausdruck »etwas auf dem Kerbholz« haben kommt von da her.
Nixons hellsichtiger Roman führt uns in den finsteren Wald der dunkelsten Märchen. Ins Gestrüpp der Urängste. In eine archaische Welt, in der nicht nur die Natur, sondern auch die einzigen Menschen, die einem nahe sind, fremd und unberechenbar bleiben. Das Gegenteil von behüteter Kindheit, von Geborgenheit in einer Familie, von Sicherheit. »Schlichtes« Überleben nennt das unsere Sprache. Der Erzähler Nixon zeigt, wie kathedralengroß solch ein Kindheitsraum ist. Und es ist schlicht begeisternd, wie er all das Schreckliche im Normalen spiegelt, und umgekehrt. Wie tief er uns in die Wildnis führt. Und gleichzeitig aber auch in das, was uns allen so völlig selbstverständlich ist: Familie. Solch eine Familiengeschichte wie »Kerbholz« haben Sie noch nicht gelesen. Dieses Buch hat Echo. Und wie.
Mich hat es nicht nur in eine nicht sonderlich behütete Kindheit zurückgeführt, auch jeder Moment Neuseeland, den ich erlebt habe, ist wieder lebendig. Die Tage an der Westküste, ziemlich genau da, wo das Buch spielt, waren mit die schönsten auf der Reise. Als wir wieder in die Zivilisation kamen, hatte die Welt Corona und die Insel war im Lockdown. Es gibt dafür schlechtere Orte auf der Welt. Das ist mein Kerbholz, das ich Neuseeland schulde.

Alf Mayer / Foto: © Random House New Zealand Ltd
Carl Nixon: Kerbholz (The Tally Stick, 2020). Aus dem Englischen von Jan Karsten. CulturBooks Verlag, Hamburg 2023. 304 Seiten, Hardcover, 24 €.

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