Kunstrichtungen wetteiferten miteinander kurz vor dem ersten Weltkrieg. Die Künstler*innen verzehrten sich geradezu nach unverbrauchten Ausdrucksformen und -mitteln. Und mittendrin der Maler, Zeichner und Karikaturist Oskar Zwintscher aus Leipzig (1860–1916), der sich als reiner Vertreter dieser künstlerischen Suchbewegungen erwies, für die auch die Welt ihre Grenzen zusammenschmolz. Japanische Holzschnitte und Chinoiserien, Expressionismus, Impressionismus, Reformbewegung, Symbolismus, die Künstlerkolonie Worpswede, Neue Sachlichkeit, Münchner Secession und Jugendstil: viele Einflüsse wurden verarbeitet und verstanden sich als Reflex auf die immer schneller verstreichende Zeit und die Rasanz der technischen Entwicklung. Die Hinwendung zur Natur, wie sie Jugendstil und die Reformbewegung am Vorabend des ersten Weltkrieges vollzogen, bezeugt diese »Weltflucht«.
Wer wäre besser geeignet, den frisch wieder entdeckten Oskar Zwintscher zu präsentieren als das Museum Wiesbaden? Es hat eine Dresdner Schau aus dem Albertinum übernommen und um den Wiesbadener Aspekt ergänzt. In seinen Archiven gab es bereits zwei Werke, eines wurde anlässlich der Ausstellung hinzu gekauft. So geben jetzt insgesamt 60 großzügig ausgebreitete Kunstwerke Auskunft über diesen Wanderer zwischen den Welten.
Das schöne Jugendstil-Oktogon des Museums macht zunächst mit der Vita des Künstlers, seiner malerischen Verheimatung und natürlich mit Adele, seiner Frau bekannt. Er, düster und wach, vor den roten Dächern Meißens mit einem durch das Fenster kriechenden Skelett und einem Stundenglas. Adele dagegen ist umgeben von Natur, in kräftigen Farben und mit einem Schmetterling porträtiert, den er als Symbol immer wieder einsetzt.
Die weiteren Räume offenbaren seine ganze stilistische Offenheit und Kunst. Eine Brücke zur Moderne schlägt das »Bildnis eine Dame mit Zigarette« von 1904: fester selbstbewusster Blick, übereinander geschlagene Beine, schwarzes lockeres Reformkleid. In schwarze Stoffe gehüllt vor schwarzem, ornamentiertem Hintergrund hat er auch Clara Westhoff porträtiert, die Frau von Rainer Maria Rilke, die unverwandt und trotzig aus dem Bild hinaus schaut. Altmeisterlich kostbar gelingt ihm die Darstellung von Schmuck, Stoffen, Tapeten. Rätselhaft und für viele Interpretationen offen sein »Der Tote am Meer« von 1913 mit einer fotografisch präzise gemalten männlichen Leiche, die einer strengen, in ein dunkles Gewand gehüllten Frau zu Füßen liegt, in deren man Anselm Feuerbachs Frauenporträts wieder zu erkennen glaubt. Symbolistisch und mit starken Jugendstilanklängen verwoben »Die Melodie« (1903).
Zwintscher, der auch Jugendstil-Plakate entwarf und Serienbilder für die Schokoladenfirma Stollwerck, starb 1916 an einer starken Influenza. Eines seiner letzten und unvollendet gebliebenen Gemälde »Der Sieger« greift fast prophetisch die Bild- und Themensprache des Nationalsozialismus auf, ein blonder muskelbepackter junger Mann schützt vor gekreuzten Säbeln eine stillende Mutter.
Grade dies ist so bedeutsam: »Die nervöse Psychologie unseres Zeitalters«, wie ein zeitgenössischer Kunsthistoriker ihm zuschrieb, vibriert in seinen Werken, er ist ein schillernder Suchender nach Wahrheit und eine wunderbare Wiederentdeckung.