»The Whale« von Darren Aronofsky

»The Whale« ist die Verfilmung eines Theaterstücks von Samuel D. Hunter – mit allen Vor- und Nachteilen, die mit dem Gebrauch einer literarischen Vorlage verbunden sind. Es gibt geschliffene Dialoge, die von alltäglichen Banalitäten befreit sind, was dem Ganzen eine gewisse Distanz zum Publikum verschafft. Dafür darf man existentielle Themen erwarten, die einen noch länger beschäftigen.
Es geht um Fettleibigkeit, Religion, Familie, Homosexualität und Selbstmord – und wie oft bei Aronofsky um Sucht. Diesmal um die Sucht, mehr und mehr in sich hineinzufuttern, nachdem der Liebhaber gestorben ist. Das alles bringt die Hauptfigur in Gang, der aus allen akzeptablen Formen geratene Charlie, verkörpert von Brendan Fraser (»Die Mumie«, »L.A. Crash«) mit prothetischer Maske und einem voluminösen Gewichtsanzug.
Fraser gelingt es, hinter der Fettmaske Eloquenz und Intelligenz, Ironie und Verletzlichkeit des adipösen Englischlehrers Charlie auszudrücken. Charlie gibt einer Studiengruppe im Internet Lektionen, wie man unverwechselbare Texte verfassen kann. Es versteht sich von selbst, dass er dabei die Webcam ausgeschaltet lässt.
Nur durch beharrliche Weigerung verhindert er, dass ihn seine langjährige Freundin und Betreuerin Liz (Hong Chau) ins Krankenhaus bringen lässt, nachdem sie seinen in astronomische Höhen gestiegenen Blutdruck gemessen hat. Obwohl er durch Google weiß, dass sein Zustand lebensbedrohlich ist, will er in seinem abgedunkelten, vor neugierigen Blicken geschützten Wohnzimmer bleiben. Das macht »The Whale« zu einem Kammerspiel, das der von Aronofsky schon öfter eingesetzte Kameramann Matthew Libatique mit langen, die Perspektive wechselnden Einstellungen auflockert.
Charlie ist lebensmüde und doch am Ende bemüht, die Sache mit seiner von ihm vernachlässigten Tochter Ellie (Sadie Sink) in Ordnung zu bringen. Ellie hat als kleines Mädchen miterlebt, wie ihr Vater die Familie für seine homosexuelle Beziehung verlassen hat. Das hat sie zu einer harten, verschlossenen jungen Frau gemacht. Der Film unterstellt dies zumindest in einer verzeihlichen Vereinfachung.
Ellie ist ein richtiger Satansbraten. Sie lädt Bilder von ihrem Vater im Netz hoch und schwärzt bei dessen Familie den jungen Evangelisten Thomas (Ty Simpkins) an, der immer wieder Charlie besucht, um ihn oder auch seine Besucher zu missionieren. Sie erreicht aber das Gegenteil: eine Versöhnung und die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Dies ist durchaus auch – und besonders in einem amerikanischen Film – als Gottes Wirken zu deuten.
Während sich Charlie körperlich immer weniger bewegen kann, auf einen Rollator und später auf einen Rollstuhl angewiesen ist, bringt er bei seinen Besuchern so einiges in Bewegung. Und das löst wiederum in ihm verschiedene Emotionen aus. Ablehnung und Dankbarkeit für Betreuerin Liz, die sich mit harter Hand durchzusetzen versucht, Umschmeicheln bis zur Bestechung bei seiner Tochter und schließlich bei seiner auch noch auftauchenden Exfrau Mary (Samantha Morton) der Wunsch nach Versöhnung. Versöhnt werden sollen auch alle »Moby-Dick«-Leser, die sich über die seitenlangen wissenschaftlichen Exkurse im Buch geärgert haben. Mit ihnen habe Autor Herman Melville nur seine eigene Traurigkeit überdecken wollen, heißt es.
Bei aller Bewunderung für Brendan Frasers schauspielerische Glanzleistung darf nicht der famose Auftritt der anderen übersehen werden, die mehr sind als nur Charly umkreisende Planeten. Sie alle machen »The Whale« auch zu einem eindrucksvollen Ensemblefilm.

Claus Wecker / Foto: © A24
-> Trailer: https://youtu.be/nWiQodhMvz4
THE WHALE
von Darren Aronofsky, USA 2022, 117 Min.
mit Brendan Fraser, Sadie Sink, Ty Simpkins, Hong Chau, Samantha Morton, Sathya Sridharan
nach dem Theaterstück von Samuel D. Hunter
Drama / Start: 27.04.2023

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