Die Musik wird zur Nebensache – »Tár« von Todd Field

Es ist noch gar nicht so lange her, dass in klassischen Konzerten nur Männer den Taktstock schwangen. Doch die Zeiten ändern sich. Mittlerweile geben vor allem in den Opernhäusern auch einige Dirigentinnen den Ton an. In den Olymp der Dirigenten hat es aber bis jetzt noch keine Frau geschafft. Wie das in so einem Fall sein könnte, davon erzählt »Tár«.

Lydia Tár ist die Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker, eine weltberühmte Musikerin von hohem Ansehen. Wie Cate Blanchett als Schauspielerin, die gleich zweimal mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Blanchett ist Tár, und das ist das Konzept des Films. Regisseur Todd Field sagt, dass der Film ohne sie undenkbar wäre. Auf den bekannten Filmstar ist nicht nur das Drehbuch, sondern auch das ganze Projekt zugeschnitten. Sowie das Marketing des Film, der als vielschichtiges Werk gepriesen wird und der Blanchett schon einen Golden Globe eingebracht hat.
Parallelen zwischen Dirigenten und Filmregisseuren werden gezogen, und selbstverständlich sollen Társ geschlechtsspezifische Barrieren deutlich werden, zumal sie obendrein eine lesbische Beziehung hat. Wenn man allerdings das Werk nüchtern betrachtet, fällt das ganze Brimborium, das der Film um seine Protagonistin macht, wie ein Kartenhaus zusammen.
Natürlich sind fast alle großen Dirigenten ziemliche Tyrannen, die mit Zuckerbrot und mal mehr, mal weniger Peitsche versuchen, das Orchester auf ihre Seite zu ziehen. Dass eine Dirigentin ähnlich handelt, kann man sich denken. Dass sie manchen Musiker oder auch Musikerin besonders sympathisch findet und bevorzugt, ist auch nichts Neues. Entscheidend ist jedoch, dass der Film keinen Bezug zu der Musik findet, die von der Protagonistin dirigiert wird. Die klassische Musik wird hier zur Nebensache.
Das quälend lange Interview mit dem Essayisten Adam Gopnik, auch eine Berühmtheit, mindestens in New York, ist ein denkbar hölzerner Beginn. Nicht ein Werk getreu den Anforderungen des Komponisten, sondern es auf eine nie gehörte Weise aufzuführen ist Társ großes Ziel. Mir ist dabei die köstliche Autobiografie des Cellisten Gregor Piatigorsky eingefallen, der einmal die Noten eines Bach-Konzerts vergessen hatte und deshalb im Stil des Komponisten improvisierte. So habe sie das Konzert noch nie gehört, sagte danach eine Besucherin zu ihm.
Im Mittelpunkt des Films steht eine Neuaufnahme der 5. Sinfonie von Gustav Mahler, die noch in der geplanten Gesamteinspielung der Mahler-Sinfonien bei der Deutschen Grammophon fehlt. Anstatt einen Satz wenigstens zu einem großen Teil auszuspielen, hört man nur ganz kurze Stücke, die Blanchett mit weit ausholenden Bewegungen dirigiert. Am Ende macht sie ein ergriffenes Gesicht. Klar, einer bedeutenden Dirigentin muss das gefühlvolle Stück besonders nahe gegangen sein. Wer dagegen im Fernsehen regelmäßig Konzerte anschaut, weiß, dass die Dirigenten in der Regel am Ende zufrieden lächeln und dem Orchester zunicken. Schließlich hat man gemeinsam eine große Tat vollbracht, wenn alles geklappt hat. Musizieren ist eben in erster Linie ein solides Handwerk.
Besonders kurios wirkt Nina Hoss als Violinistin und Társ Lebenspartnerin. Auch sie kommt über ihr Schauspieler-Image nicht hinaus, wenn sie mürrisch dreinblickend die Konzertmeisterin mimt. Oder anders gesagt: Ich kann beiden Schauspielerinnen ihre Rollen nicht abnehmen, und deshalb war ich auch vom Scheitern dieser Lydia Tár, die am Ende ganz wörtlich aus dem Olymp der Stardirigenten fällt, nicht erschüttert, sondern eher amüsiert. In meinen Augen ist der Film schon lange vorher gescheitert.

Claus Wecker / Foto: © 2022 Focus Feature
TÁR
von Todd Field, USA 2022, 158 Min.
mit Cate Blanchett, Noémie Merlant, Nina Hoss, Adam Gopnik
Drama
Start: 02.03.2023

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