»Fritz Bauers Erbe – Gerechtigkeit verjährt nicht« von Sabine Lamby, Cornelia Partmann und Isabel Gathof

Wenn man in den Fernsehnachrichten von einem Mordprozess erfährt, der gegen einen Neunzigjährigen wegen seines Dienstes in einem Konzentrationslager geführt wird und noch dazu in der Jugendkammer, weil er zur Tatzeit vor siebzig Jahren nicht erwachsen war, hinterlässt dies ein zwiespältigen Eindruck. Bekommt der alte Mann im Rollstuhl überhaupt mit, worum es geht? Warum wird die Justiz erst jetzt aktiv? Und was bedeutet das für die Überlebenden und deren Familien? Dieser Dokumentarfilm geht den Fragen nach und gibt Antworten, die auch die juristisch Ungebildeten unter uns verstehen können.

Der Film stellt den Prozess gegen den 95-jährigen Johann R., der im November 2018 in Münster eröffnet wurde, in den Mittelpunkt. Als SS-Angehöriger soll er das KZ Stutthof bei Danzig auf einem Wachturm beaufsichtigt haben und sich deshalb der Beihilfe zum Mord in Hunderten Fällen schuldig gemacht haben. Im Verlauf wurde der Angeklagte prozessunfähig erklärt und das Verfahren eingestellt.
In einem weiteren Prozess in Hamburg wurde der einstige SS-Wachmann Bruno D. zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen im KZ Stutthof verurteilt. Auch hier stand das Verfahren kurz vor einem vorzeitigen Ende, das die Verteidigung beantragt hatte. Doch die Richterin blieb beharrlich. Sie verhängte eine Bewährungsstrafe, die ohne weitere Verzögerungen von dem Angeklagten angenommen werden konnte.
In Statements von Historikern und Juristen erklärt der Film, warum die Wachleute erst jetzt angeklagt bzw. verurteilt konnten. Die Antwort ist einfach: Es musste nach dem Krieg die individuelle Schuld nachgewiesen werden. Es galt der sogenannte Einzeltatnachweis, der insbesondere durch Zeugenaussagen der KZ-Überlebenden erbracht werden musste. Der Umgang mit diesen Zeugen war nicht immer rücksichtsvoll.
In einem historischen Filmausschnitt besteht der Verteidiger darauf, dass sich der ehemalige KZ-Insasse erinnern müsse, ob die Rampe, an der in Todgeweihte und Arbeitskräfte selektiert wurde, erhöht war oder ebenerdig. Der Sinn dieser psychischen Tortour war wohl, den Zeugen unglaubwürdig zu machen. Die traumatisierten Kläger mussten Täter und deren Opfer eindeutig identifizieren, was bei einem industriellen Tötungssystem nur schwerlich gelang.
Die Aussage eines Wächters, er habe von dem Wachturm aus die Vorgänge im Lager nicht mitbekommen können, konnte widerlegt werden. Auf die Aussage eines anderen, er habe keine Möglichkeit gesehen, von dem Lager wegzukommen, geht der Film allerdings nicht näher ein.
Die heutige rigorose juristische Aufarbeitung geht auf den legendären hessischen Staatsanwalt Fritz Bauer zurück. Der hatte schon nach dem Krieg für den Tatbestand der Beihilfe plädiert und im berühmten Frankfurter Ausschwitzprozess von 1963 den Nachweis geführt, dass der systematische Massenmord in Konzentrationslagern nicht durch wenige, einzelne Täter, sondern nur durch die Unterstützung von tausenden Mittätern und Mittäterinnen begangen werden konnte.
Nur blieb der Ausschwitzprozess einzigartig, denn eine allgemeine Kollektivschuld wurde auch von denjenigen abgelehnt, die sich mit der NS-Justiz und dem gesamten NS-Apparat nicht gemein gemacht hatten. Sei es, dass sie aus dem Staatsdienst ausscheiden mussten, in Gefängnissen oder Lagern saßen oder, um dem zu entgehen, emigriert waren.
Den jahrzehntelangen Umdenkungsprozess hierzulande mag auch ein wachsendes Mitgefühl gegenüber den Überlebenden und deren Familien befördert haben. So zeigt der Film eine betagte ehemalige KZ-Insassin, die als Nebenklägerin aus Israel nach Deutschland gekommen und zufrieden ist, dass sie angehört wurde, und einen jungen Amerikaner, den als Enkelsohn die Zugewandtheit zu den Opfern an einem deutschen Gericht sichtlich überrascht hat.
Der Dokumentarfilm ist gut recherchiert. Warum die interessanten historischen Aufnahmen auf Wände projiziert werden, bleibt mir unerfindlich, und die Musik des Frankfurter Jazz-Pianisten, DJ und Musikproduzenten Matthias Vogt klingt in meinen Ohren etwas zu gefällig. Aber diese Nebensächlichkeiten fallen bei der Bedeutung dieser Frankfurter Filmproduktion, die vor allem jungen Leuten gezeigt werden sollte, nicht sonderlich ins Gewicht.

Claus Wecker / © Naked Eye Filmproduktion
FRITZ BAUERS ERBE – GERECHTIGKEIT VERJÄHRT NICHT
von Sabine Lamby, Cornelia Partmann und Isabel Gathof, D 2022, 98 Min.
Dokumentarfilm
Start: 02.02.2023

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