Die Schweizer Autorin Petra Ivanov, befragt

Die Stadt Dübendorf im Kanton Zürich führt ein goldenes Einhorn im Wappen. Auch Petra Ivanov, die dort eine ganze Weile gewohnt hat, ehe sie nach Zürich zog, gehört zu einer selten Spezies. Sie ist die erfolgreichste Kriminalautorin der Schweiz, schreibt beständig ebenso spannende wie solide und vielschichtige Bücher. Ihre Geschichten wurzeln im Hier und Jetzt unserer modernen Welt, sie verhandeln aktuelle Konflikte, reiben sich an der Gegenwart. Unterhaltung also mit Tiefgang und mit vielen Zwischentönen. Auch über das Verhältnis von Männern und Frauen gibt es viel zu erfahren. Petra Ivanovs Charaktere sind komplex, sie berühren und irritieren – und ziehen an. »Stumme Schreie« ist der neunte Fall von Regina Flint und Bruno Cavalli. 2009 wurde Petra Ivanov mit dem Zürcher Krimipreis ausgezeichnet, 2020 erhielt »Entführung«, der vierte Fall für Jasmin Meyer und Pal Palushi, die »Silberne Lupe« des Crime Cologne Award.

 

Frage: Ihre Hauptfiguren sind Paarkonstellationen. Wie ist es dazu gekommen?

Petra Ivanov: Ursprünglich wollte ich nur eine Staatsanwältin im Mittelpunkt haben. Aber als Regina Flint dann am Tatort stand, das war damals 2005 in »Fremde Hände«, war dort bereits der Polizist Bruno Cavalli und der ließ sich nicht in eine Nebenrolle drängen. Und so war es auch mit Pal Palushi.

Wie ist es überhaupt mit Ihnen und Ihren Figuren?

Die sind ständig da mit neuen Fragen, Problemen und Gefühlen. Sie sind lebendig. Wenn ich nicht niederschreibe, was mit ihnen ist, verliere ich den Kontakt zu ihnen. Deshalb ist es wichtig, dass ich kontinuierlich schreibe. Das ist befreiend.

Und wie sehr haben Sie ihre Figuren »im Griff«?

Die Figuren machen längst nicht immer das, was ich tun würde. Sie haben einen eigenen Charakter, den aber habe ich ihnen tatsächlich allerdings eben irgendwann verpasst. Und nur weil es einfacher für die Geschichte wäre, kann ich später nicht willkürlich über ihr Handeln entscheiden. Also schreibe ich Satz um Satz. Wie sich die Geschichte entwickelt, weiß ich nicht von Anfang an. Das ergibt sich.

Und dass Ihnen der Stoff ausgeht, haben Sie diese Sorge?

Nein gar nicht. Ich bin neugierig auf die Welt. Das ist mein Zugang. Es gibt so viel, was wir davon wissen und erfahren sollten – und es gibt auch viel Ungerechtigkeit.

In ihren Kriminalromanen geht es immer um mehr als nur ein Rätsel oder wer der Täter war. Es geht um Hintergrund, sei es Balkan, Kaukasus, Ausländerpolitik, Rassismus, Migration, Flucht, Integration, Gewalt, Drogen, häusliche Gewalt. Sie haben einmal gesagt: »Ich möchte denjenigen eine Stimme geben, die keine haben.« Warum dieses Engagement?

Das war bei mir schon immer so. Intoleranz, Ungerechtigkeit, Fake News und Pauschalisierungen habe ich noch nie ertragen können. Schreiben ist für mich auch Mittel zum Zweck, um auf Themen aufmerksam zu machen, die Zeitungen nicht publizieren wollen. Oder bei den heutigen Textumfängen nicht differenziert darstellen können. Bücher sind hier das viel bessere Medium.

Warum ist es Ihnen so wichtig, dass alle Details stimmen?

Ich schreibe so, wie ich gerne lese. Ich mag es, wenn Abläufe, Hintergründe und Schauplätze korrekt beschrieben werden. Das erfordert eine genaue Recherche. Für »Leere Gräber« habe ich vier Monate in Paraguay und Argentinien recherchiert, für »Stille Lügen« in Georgien. Das ist aufwendig, aber es macht einen Text auch vielschichtig. Erst mit genauen Details beginnt er zu leben. Ich fühle mich um eine Erfahrung betrogen, wenn getrickst wird.

Viele moderne Ermittlerinnen haben eine Macke, sie sind versehrt oder traumatisiert. Lisbeth Salander zum Beispiel ist schwer missbraucht worden, Saga Norén leidet unter dem Asperger Syndrom, Carrie Mathison unter einer bipolaren Störung. Warum, denken Sie, muss das so sein?

Weil eine Romanfigur Hürden überwinden muss. Je höher die sind, je mehr Schwierigkeiten es gibt, desto spannender die Entwicklung, die eine Figur durchmacht. Bei weiblichen Romanfiguren trifft das vielleicht noch stärker zu als bei männlichen.

Sie gehen hier aber einen anderen Weg. Ihre Hauptfigur, die Staatsanwältin Regina Flint, ist genau deshalb interessant, weil sie so normal ist.

Das haben gerade am Anfang nicht alle so gesehen. Das erste Manuskript habe ich damals an einen feministischen Verlag geschickt, es wurde abgelehnt mit der Begründung, Regina sei zu wenig emanzipiert, zu wenig hart. Sie habe zu viele Unsicherheiten, sie sei zu sehr Durchschnittsfrau. Dabei bewegte sie sich damals, 2005, als Staatsanwältin in einer Welt, die vorwiegend von Männern dominiert wurde.

Und sie härter zu machen, das wollten Sie nicht?

Nein, nie. Frauen in einer Männerdomäne haben zwei Möglichkeiten: Sie passen sich an, werden hart und machen auf Mann. Oder sie bleiben sogenannt »normal«, was dazu führt, dass gewisse weibliche Eigenschaften als Schwäche statt als Stärke wahrgenommen werden und die Frauen Gefahr laufen, weniger respektiert zu werden.

Regina Flint scheint das egal zu sein. Sie behauptet sich mit ihren eigenen Mitteln.

Ja, sie bleibt einfach sie selbst, mit ihren Schwächen und mit ihrem Mitgefühl. Ihre Stärke besteht genau darin, sich nicht hinter einem Panzer zu verstecken. Sie schlägt sich durch, sie kämpft, aber auf Machtspiele hat sie keine Lust. Sie möchte einfach einen guten Job machen. Es geht ihr um den Inhalt. Trotzdem macht sie anscheinend weniger Eindruck auf die Leserschaft als ihr Partner Cavalli.

Wie kommen Sie darauf?

Ich werde häufig gefragt: Wann kommt der neue Cavalli? Kaum jemand fragt: Wann kommt der neue Flint? Anscheinend ziehen Männerfiguren einfach mehr. Oder Regina Flint ist eben doch zu normal. Mir selbst geht es ja als Autorin auch ein wenig so.

Sie sind zu normal? Und deswegen nicht so präsent in den Medien?

Die Medien mögen schillernde Figuren. Dafür bin ich wohl tatsächlich zu normal.

Mit Verlaub, das halte ich für eine ziemliche Untertreibung. Sie sind in den USA aufgewachsen, Ihnen ist das Englische eigentlich lieber als das Deutsche, Sie waren in Moskau verheiratet, Sie gehen in Gefängnissen ein und aus …

Nun ja, in Strafanstalten war ich tatsächlich schon, das gehört für mich zur Recherche. Ich spreche mit den Gefangenen über ihr Leben, über ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse und Hoffnungen. Ich stelle aber keine direkten Fragen zu ihren Verbrechen. Direkte Fragen ergeben selten gute Antworten. Auch in meinen Büchern werte ich nicht die Tat, sondern ich beschreibe, was dahintersteckt. Die Frage ist nicht, ob jemand ein Mörder ist oder nicht. Böses tragen nicht nur Mörder in sich. Die Grenzen zwischen einem Mörder und der Gesellschaft sind hauchdünn. Kein Mensch sollte nur auf ein Verbrechen reduziert werden. Ich jedenfalls möchte alle Schattierungen meiner Figuren beleuchten und versuche, sie für sich sprechen zu lassen.

Und wie recherchieren Sie?

Nun ja, wenn, dann richtig. Für die Recherchen meiner Geschichten lese ich Fachliteratur, schaue mir Schauplätze an, stelle Fragen, besuche Weiterbildungen, nehme an Einvernahmen und Gerichtsverhandlungen teil und schaue Fachkräften über die Schulter. Häufig erfahre ich Spannendes, wenn ich einfach beobachte. Zum Beispiel durfte ich einmal eine ganze Woche in der Rechtsmedizin verbringen. Wie eine Obduktion abläuft, konnte ich im Vorfeld nachlesen. Nicht aber, was die Ärztinnen und Ärzte dabei diskutieren, welche Gedanken sie sich machen, wie ein Mageninhalt unter einem Mikroskop aussieht oder was er über die letzten Stunden vor dem Tod aussagt.

Ihre Bücher werden für ihre Detailtreue gerühmt. Sie haben auch Leser bei der Polizei?

Ja, habe ich. (Lächelt.)

Was würden Sie als Ihr wichtigstes Rezept nennen?

Wichtig ist, dass man sich in Menschen hineinversetzen kann. Das ist mir immer schon ein Anliegen gewesen. Fürs Schreiben ist es unerlässlich, weil man dabei die Perspektive anderer einnehmen muss. Wenn ich schreibe, beginne ich zum Beispiel, wie eine Polizistin oder wie eine Staatsanwältin zu denken. Ich überlege mir: Was sehen sie an einem Tatort? Wen befragen sie? Wie? Und was hören sie bei einem Verhör?

Als anglophile Personen kennen Sie sicher auch diese hiesige Unterscheidung …

… Sie meinen von Unterhaltung und Kunst? Ja, das ist bei uns typisch. Krimis werden wegen ihrer Beliebtheit oft nicht als richtige Literatur angesehen, im Sinne von: Was viele gut finden, kann ja nicht gut sein. Ich bin da viel eher bei den Angelsachsen, bei ihnen gilt es als Kunst, andere zu unterhalten. Warum sollte Kunst nicht unterhaltend sein?

Wie sieht der Alltag einer Krimiautorin aus?

Ich bin es gewohnt, in jeder Lage zu schreiben. Ich verdiene mein Einkommen hauptsächlich mit Lesungen an Schulen, in Bibliotheken und Buchhandlungen, nicht mit dem Verkauf von Büchern. Weil ich selbstständig bin, kommen die Administration, die Website, die Buchhaltung, die sozialen Medien, die Anfragen von Schülerinnen und Schülern und vieles mehr hinzu. Das alles bestimmt meinen Tagesablauf.

Wann schreiben Sie denn?

Dazwischen. Manchmal von morgens zwischen fünf und sieben Uhr, dann fahre ich zu einer Lesung, schreibe noch ein bisschen während der Zehn-Uhr-Pause, manchmal bekomme ich auch ein leeres Schulzimmer zur Verfügung gestellt.

Sie können einfach so in einer Pause weiterschreiben?

Ja, ohne Probleme. Ich lebe quasi in der Geschichte.

Alf Mayer

Petra Ivanov: Stumme Schreie. Unionsverlag, Zürich 2021. 352 Seiten, gebunden, 26 €

Die anderen Bücher der Flint-und-Cavalli-Reihe: Fremde Hände/ Tote Träume/ Kalte Schüsse/ Stille Lügen/ Tiefe Narben/ Leere Gräber/ Heisse Eisen/ Erster Funke/ Alte Feinde.
Die Meyer und Palushi-Reihe: Tatverdacht/ Hafturlaub/ Täuschung/ Entführung.

 

 

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