Sechs Jahre ist es nun schon her, dass Ladj Lys »Les Miserables« in Cannes den Jury-Preis erhielt. Bei uns gab der Verleih dem Film den Titelzusatz »Die Wütenden«, weil die meisten Menschen nicht an Victor Hugos sozialkritischen Roman, sondern an das verkitschte Musical dachten. Der in Mali geborene und in dem Pariser Vorort Montfermeil, den vor über 150 Jahren auch Hugo schilderte, aufgewachsene Regisseur schilderte schonungslos die heutigen Zustände in einem von mehrheitlich afrikanischen Einwanderern und ihren Kindern dominierten Stadtteil, wo der aussichtslose Kampf um bessere Lebensbedingungen blanke Wut hervorbringt. Eben da knüpft seine zweite Spielfilminszenierung an.
Am Anfang blickt die Kamera von Julien Poupard auf eine Ansammlung von Wohnsilos. »Ich hatte mir Frankreich ganz anders vorgestellt«, heißt es später unter den Bewohnern. Im Treppenhaus eines dieser Massenunterkünfte wird aus einem oberen Stockwerk ein Sarg samt Leiche mühsam hinunterbugsiert, denn der Aufzug ist schon lange Zeit kaputt. Selbst der Umgang mit dem Tod ist in dem Ghetto beschwerlich.
Mittlerweile haben sogar die weißen Politiker erkannt, dass dort die Bedingungen unhaltbar sind. Sie planen eine Neubebauung des Viertels. Als der Bürgermeister die Sprengung eines heruntergekommenen Wohnmonsters auslöst, erleidet er einen tödlichen Herzinfarkt, und wir bekommen bei der Ernennung des kommissarischen Bürgermeisters einen ersten Einblick ins politische Gemauschel.
Ausgesucht wird nämlich der Kinderarzt Pierre Forges (Alexis Manenti), der den ganzen Film hindurch den unsympathischen Weißen gibt, der im Zweifelsfall gegen die afrikanische Gemeinschaft entscheidet. Eventuell hätte ihn seine Frau Nathalie (Aurélia Petit) von mancher Fehlentscheidung abbringen können. Doch sie, die nicht gefragt wurde, als er das Bürgermeisteramt annahm, hat ihn ermahnt, seine Arbeit nicht mit nach Hause zu bringen. Das würde ihr ein Zusammenleben mit ihm erschweren.
Die Aufgabe, ihn zu mäßigen, könnte sein Stellvertreter, der dunkelhäutige Roger Roche (Steve Tientcheu), übernehmen. Aber der knickt bei jedem Versuch ein und lässt sich trotz schwerer Bedenken immer wieder umstimmen.
Forges muss die Errichtung der neuen Unterkünfte voranbringen. Allerdings gehen auch die Pläne nicht auf die Bedürfnisse der Mieter ein. Es fehlen nämlich größere Wohnungen für vielköpfige Familien, weshalb die engagierte Haby (Anta Diaw) Änderungen verlangt. Im Rathaus ist man der Meinung, dass auch drei Generationen in einer Zweizimmer-Wohnung unterkommen könnten.
Haby, deren Familie aus Mali eingewandert ist, sieht sich im Kampf um bessere Lebensbedingungen als moderne Französin mit allen Rechten und kandidiert bei der anstehenden Bürgermeister-Wahl, obwohl sie kaum Chancen hat. Der mit ihr befreundete junge Blaz (Aristote Luyindula), den sie einmal einen Schmalspur-Malcolm-X nennt, ist eher für das Abfackeln einer Plakatwand zu haben, die das Neubauviertel anpreist. Widerstand muss eben auch Spaß machen. (Die älteren Zuschauer erinnern sich an das klassische schwarz-weiße Banlieue-Drama »Hass – La haine«, in dem Mathieu Kassovitz 1995 den Jugendlichen aus den Pariser Vororten eine Stimme gab.)
Wie in einer antiken Tragödie steuert alles auf eine Katastrophe zu. In diesem Fall auf eine Zwangsräumung innerhalb kürzester Zeit, weil eine illegale Kantine in einem Hochhaus gebrannt hat. Offiziell aus Sicherheitsgründen, in Wahrheit, um Kosten zu sparen, soll das Haus sofort abgerissen werden. Spätestens an dieser Stelle, wenn die Bewohner ihre Habseligkeiten aus den Fenstern auf die Straße werfen, um noch zu retten, was sie unbedingt behalten wollen, erreicht der Film einen emotionalen Höhepunkt.
In »Die Wütenden – Les Miserables« schilderte Lady Ly die Zustände in den französischen Problemvierteln aus der Sicht der Polizei, die am offenen Ende nur um Gnade bitten konnte. Diesmal erzählt er aus der Mitte der Einwanderer heraus, ohne sie zu idealisieren. Er erzeugt einen mitreißenden Sog, der »Die Unerwünschten – Les Indésirables« zu einem großartigen Film macht. An dessen bitterem Ende bestimmt eine ethische Instanz die Entscheidung des Protagonisten: sein Gewissen.