Staatstheater Wiesbaden setzt Éduard Louis‘ »Die Freiheit einer Frau« mit Eva Mattes in Szene

»Gesellschaft, Männerwelt, mein Vater« bilden eine Trias, die gegen diese Frau steht. In seinem Buch »Die Freiheit einer Frau« (2021) unterzieht der französische Schriftsteller Édouard Louis das Leben seiner Mutter einem soziologisch-analytischen, an Pierre Bourdieu und Didier Eribon geschulten Blick. Am Wiesbadener Staatstheater hat nun Falk Richter seine Bühnenfassung, die vor drei Jahren am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg Premiere hatte, mit Mitgliedern des Wiesbadener Ensembles erneut umgesetzt; Star der Aufführung bleibt wie schon in Hamburg die wohlerhalten siebzigjährige Eva Mattes in der Rolle der alten Mutter, vor der Pause vorwiegend präsente Beobachterin ihrer aufgerollten Lebensgeschichte vom Rande aus.
Nicht revolutionär gereckt ist die riesige weiße Faust auf dem winkeligen Podium von Katrin Hoffmann, vielmehr drückt sie repressiv nach unten. Klein sind die Verhältnisse der in der nordfranzösischen Provinz angesiedelten Familie Bellegueule, für ihr Heim auf der unter anderem mit einem goldenen Triumphbogen – Friesinschrift: »Métamorphose« – möblierten Bühne steht ein grau in graues Puppenhäuschen. Mit 18 hat die in der jungen Ausgabe von Sandrine Zenner gespielte Monique das erste von fünf Kindern bekommen, unter denen Eddy ist, der sich um der repressiven Enge von Provinz und Familie zu entkommen – auch der unterwürfigen Mutter, die seiner Homosexualität nicht wohlwollend begegnet ist – in Louis umbenannt und es geschafft hat, seiner Klasse zu entkommen: heute ist er ein gefeierter Schriftsteller.
Ungeachtet gleich zweier aufeinanderfolgender schwer saufender, untreuer und schlagender Männer wird die Geschichte wie schon im Buch so auf der Bühne nicht als Melodram gezeichnet. Vielmehr entfacht Falk Richter ein knalliges Spektakel in einer Manier, die einer Fernsehshow nahekommt, was einen insofern abwinken macht, als dieses Inszenierungsmodell vom gegenwärtiger Theater nur zu oft gedroschen wird; nicht zuletzt auch Richter hat sich dessen schon häufig bedient.
Zudem erinnert manches von dem, was sich da abspielt zwischen Plastikbäumchen und blaugetünchten Felsen sowie drei Video-Projektionsflächen für vor allem auf die Vergangenheit bezogene Liveszenen, die hinter den Kulissen gespielt werden, erinnert an bemühtes Jugendtheater aus den siebziger Jahren. Wie die reine Wohltat wirken die von einem emanzipatorischen Drive gekennzeichneten Rocksongs mit der großartigen Bernadette La Hengst und ihrer weiblich besetzten Band. Bewegend immerhin die von Lennart Preining als Édouard ruhevoller Konzentration vorgetragenen Schilderungen der Gewalterfahrung einer Jugend als Homosexueller. Aber das ist eher Wirkung der Worte als der Bilder.
Und dann hat sie eine Zigarette mit Catherine Deneuve geraucht: Alles anders plötzlich nach der Pause im Leben dieser Frau. Mit einem Mal präsentiert sich das Stück wie eine der französischen Wohlfühlkomödien im Kino. Vorbei ist es mit dem ewig trist-braunkitteligen Leben. Nachdem sie von ihrem Ehescheusal losgesagt hat, blüht die Dame mit neuem Liebhaber in Paris in Gestalt von Eva Mattes als glamouröse Diva mit tiefem Ausschnitt und goldener Schleife auf dem Abendkleid ungeahnt auf.
In der Sache uninteressant ist die ins Exemplarische gewendete autofiktionale Geschichte zweier Befreiungen, jener der Mutter und jener des Sohnes, ganz gewiss nicht, zumal Édouard Louis explizit auf die Gewaltverhältnisse des Klassismus abhebt. Die Absicht, das Wiesbadener Theater aus der vorhergehenden Tendenz zur Musealität zu lösen, wie es von den neuen Intendantinnen Dorothea Hartmann und Beate Heine gerade unternommen wird, ist eine gute. Aber in der Form wünscht man sich dann doch mehr als die – in Teilen nicht unvitale, immerhin ja die Welt als eine veränderbare zeichnende – pralle Dürftigkeit eines Abends wie diesem.

Stefan Michalzik / Fotos: © Maximilian Borchardt
Termine: 2. März, 19 Uhr und weitere während der Maifestspiele
www.staatstheater-wiesbaden.de

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