Ein Buch, dessen Ausgang man schon vor der ersten Zeile kennt. Die Chronik eines angekündigten Todes. Und so viel mehr. Giovanni Falcone wusste, dass er sterben würde, nur nicht wann. Auch Roberto Saviano, der Autor von »Falcone«, hat ein schwarzes Kreuz auf dem Rücken. Die Mafia will seinen Tod. Seit dem 13. Oktober 2006, zwei Monate nach Erscheinen seines undercover recherchierten Buches »Gomorrha – Eine Reise in das Wirtschaftsimperium der Camorra und ihren Traum von der Vorherrschaft«, so der vollständig übersetzte Titel, steht Saviano unter Personenschutz und lebt seitdem versteckt an wechselnden Orten, die er alle zwei Tage verlassen muss. »I Am Still Alive« verkündete er 2023 trotzig per Graphic Novel im Verlag Cross Cult.
»Mut macht einsam« oder »Einsam ist der Mutige« heißt der italienische Originaltitel von »Falcone«, jenem Buch, für das Robert Saviano geboren worden ist, jenem Buch, für das er wie kein anderer auf diesem Planeten geeignet und berufen ist. Viele einsame Tage und Nächte hat dieser Saviano, der bei der Veröffentlichung von »Gomorrha« 26 war, seitdem selbst ausloten können und müssen, was es heißt und welche Konsequenzen es hat, sich offen gegen die Mafia zu stellen. Sein Roman »Falcone« erschien in Italien zum 30. Todestag der wohl größten Symbolfigur Italiens im Kampf gegen die Cosa Nostra. Im historischen »Maxi-Prozess« von 1986 ergingen, von Giovanni Falcones Ermittlungsarbeit in die Wege geleitet, 346 Schuldsprüche und wurden 2.665 Jahre Haft verhängt. »Heute hat die Justiz endlich einmal nicht verloren«, vermerkt dazu der Roman.
Das Buch ist nicht nur eine Verneigung vor einem mutigen Mann, »der den Tod erwartet wie ein Samurai«, nicht nur eine für alle Zeiten aufzubewahrende Chronik, nicht nur eine literarische Leistung, vor der es den Hut zu ziehen gilt – es ist selbst Teil jenes Staffellaufs, von dem darin die Rede ist. An uns Zeitgenossen ist es, unsern Teil dafür zu tun, dass solcher Mut nicht vergeblich bleibt. »Die Gegenwart ist ein verlorener Krieg … In welche Schublade soll er seine Hoffnung legen?«, heißt es einmal im Buch. Wer gegen die Mafia kämpft, kann bald »einen kleinen persönlichen Friedhof alleine mit den Gräbern von Freunden und Kollegen füllen«. Italien ist »ein Land, das sich auf seine Märtyrer verlässt«.
Im dem Moment, in dem der Richter Falcone den Kronzeugen Tommaso Buscetta zum Reden bringt und zum ersten Mal authentische Auskunft aus dem Innenraum der Organisation erhält – von »Ritualen«, von der »Initiation«, von »Angeschlossenen«, »Repräsentanten«, von der absoluten Pflicht zum »Schweigen«, von »Soldaten«, Zehnergruppen, lokalen Banden, »mandamenti«-Bezirken, von »Familien«, Bezirksbossen, »sottocapi« und »consiglieri« –, sich vorkommt wie ein Insektenkundler, ein Botaniker, Naturforscher, der einen Begriff nach dem andern aufschreibt (»Wenn man einen Namen nicht kennt«, sagte Carl von Linné, der Vater der Gattungen und Spezies, »stirbt auch das Wissen von den Dingen«), in diesem Moment, von dem an die Mafia nicht mehr die Mafia heißt, sondern ihr wahres Gesicht als Cosa Nostra zeigt, lässt der Romanautor den geständigen Mafiaboss an einen Film denken, den der vor vielen Jahren gesehen hat. An Pietro Germis IM NAMEN DES GESETZES aus dem Jahr 1948, wo ein Richter auf Sizilien zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Kampf gegen die Diktatur der Mafia aufnimmt und einen lokalen »capo« davon überzeugt, sich der Justiz zu stellen. Der Terminus, der ihm dabei in den Sinn kommt, ist der von der »gelassenen Stärke der Justiz«. Das steht ziemlich in der Mitte des Buches. Es ist sein sozusagen utopischer, hoffnungsvoller Angelpunkt. Und es zeigt auch die historische Dimension auf. Buscetta wird Falcones Kronzeuge für den sogenannten Maxi-Prozess.
Savianos großer Roman hat die Wirklichkeit als Grenze der Fiktion, ist Literatur mit so wenig »Zugabe« wie nur möglich. Fiktion als Gegensatz zur Faktizität – im Geist der großen realistischen Erzähler des 19. Jahrhunderts, deren Anspruch es war, das Vergangene wie eine zweite Gegenwart erscheinen zu lassen, was Ranke das »Vermögen der Wiederhervorbringung« nannte. Oder um es mit Jacob Burckhardt zu sagen: Geschichte macht nicht klug für ein andermal, sondern weise für immer.
Wie bei Gabriel García Márquez und dessen »Chronik eines angekündigten Todes« von 1981 ist von der ersten Romanzeile an allen klar: Es wird ein Mann getötet werden. Was, so Walter Böhlich damals in seiner Besprechung, »wohl heißen soll, dass die gemeinten Verbrechen nur möglich sind, weil sie unbewusst auch von denen gewünscht werden, die sich allein durch Unglauben von ihnen distanzieren«. In der Erzählhaltung konstativ, könnte Savianos Buch auch den Untertitel von Kluges »Schlachtbeschreibung« (1964) tragen: »Organisatorischer Aufbau eines Unglücks«. Das Thema dort: der Russlandfeldzug der Deutschen Wehrmacht. Die Erzählform: »Ein Gitter, an das sich die Phantasie anklammern kann, wenn sie sich in Richtung der Explosion bewegt« (Kluge).
In anderer Weise als beim traditionalen Erzählen stellt das exemplarische Erzählen die Zeit still, verräumlicht sie. Macht uns zum Mitbewohner. Nicht nur für Arno Schmidt ist Programm: »Der einzige bewohnbare Ort ist die Literatur.« Auch deswegen hat Saviano sich dieses Buch eingerichtet. Man spürt ihn atmen.
Er ist zwölf Jahre alt, als am 23. 5. 1992 um 17:57 Uhr eine gewaltige Detonation auf der A29 bei Capaci, 15 Kilometer vom Flughafen von Palermo entfernt, die Autokolonne von Giovanni Falcone zerfetzt – und ganz Italien erschüttert. 500 Kilogramm TNT in einem Drainagerohr versteckt. Ein Krater wie nach einem Bombeneinschlag. Eine der Fiat-Limousinen wird 60 Meter weit weggeschleudert. Zur Größenordnung: Zehn Kilo TNT reichen aus, um ein normales Auto in die Luft zu sprengen. Sieben Kilo TNT in einem Paket von der Größe einer Schultasche auf dem Gepäckträger des Fahrrads deponiert, lassen am 30. November 1989 Alfred Herrhausen am Seedammweg in Bad Homburg in seinem Fahrzeug verbluten. Mit 200 Kilo Sprengstoff zerlegt die RAF 27. März 1993 die komplette Justizvollzugsanstalt Weiterstadt in Südhessen.
500 Kilogramm TNT sind ein Statement. »Sie wollen eine Superstaatsanwaltschaft machen? Also machen wir das Superding. Basta«, hat der Boss der Bosse, der Kurze genannt, zu den capi mandamenti, den Bezirksbossen gesagt, die mit ihm um einen Tisch sitzen. »Ich will Falcone.« Der ist in Rom, ins Justizministerium versetzt, wo er das Ohr des Ministers hat und die wider besseres Wissen immer noch zersplitterten Instanzen im Kampf gegen das organisierte Verbrechen mit einer neuen Behörde, der DNA (Direzione Nazionale Antimafia) endlich schlagkräftig machen will: mit 20 Stellvertretern, 26 Bezirksstaatsanwaltschaften und ihm als Chef. Das alarmiert die Gegenseite. Zuträger aus der Justiz hat sie genug.
Falcone weiß, worauf er sich eingelassen hat. Weiß, dass er vom Tod gezeichnet ist. Weiß, so die Formulierung im Roman, »dass es ein Staffellauf geworden war. Jeder läuft eine Strecke, überreicht die Papiere dem nächsten und stirbt. Verstehst du diesen Wahnsinn?« Den Gerechten ist ein schwarzes Kreuz auf den Rücken gemalt, heißt es an anderer Stelle. Nüchtern und ohne hohles Pathos beschreibt der kraftvolle, dosiert poetische Roman Leben und Kampf eines aufrechten Mannes und den mit seiner Arbeit zusammenhängenden wahrhaft politischen Moment, dass wir – wenn wir mutig genug sind – die Mafia als Macht erkennen, gegen die jedes Gemeinwesen sich stellen MUSS.
Dass dieser Autor einen Auftrag hat und über ein Wissen verfügt, von dem wir als Gesellschaft lieber nicht so richtig Kenntnis und Gefühl haben wollen, spürt man in jeder Zeile. Bewundernswert ist, welche Form und welche Stimme Roberto Saviano dafür gefunden hat. 55 Kapitel, chronologisch erzählt, »show, don‘t tell«, die Erzählperspektiven intelligent verschränkt, Didaktisches vermieden, Poesie wie Musikstücke gesetzt, sparsam dosiert, aber ein wunderbarer durchgängiger Kammerton. »Hier erwacht der Boden lange vor der Sonne. Er beginnt zu atmen, wenn es noch dunkel ist«, beginnt das Buch 1943 außerhalb des sizilianischen Ortes Corleone. Die »Geschenke aus Eisen«, die Bomben der Amerikaner, die die Bauern aus den Äckern bergen, sind eine »Brut aus Dracheneiern, zwischen den Erdschollen abgelegt« und wertvoll »wie Schweine. Nichts wurde weggeworfen.« Eine solche Bombe ist es, die den Kleinbauern Giovanni und zwei seiner Söhne zerreißt. Nur Totò Riina, zwölf Jahre alt, bleibt unverletzt. Er ist jetzt Familienoberhaupt. Später der oberste Boss der Cosa Nostra. Er ist es, der den Befehl gibt »Falcone muss weg«. Für das Superding fehlt noch Sprengstoff. Sie holen sich ihn aus der amerikanischen Drachenbrut, die Fischer immer noch manchmal aus dem Meer ziehen. Was für eine Klammer, die hier, von Saviano gesehen, die grausame Wirklichkeit um das Geschehen legt.
Dieses Buch wird ein Klassiker, aufzubewahren für alle Zeiten, und verdient jede Beachtung. In »Falcone« überkommt einen öfter ein Frösteln. Eine Beklommenheit. Ein Flügelschlag von Benjamins Engel der Geschichte, den längst nicht jede Lektüre evoziert.
Insofern ist «Falcone» auch eine große Glocke, geschrieben, gehärtet und geläutet, auf dass wir sie hören. Hören und erleben wie eine Oper, ihre Gefühle, Schmerzen und Wahrheiten buchstäblich, wie früher auch fürs Buch in Blei gegossen. Groß und wahr.
»Alle auftretenden Personen hat es wirklich gegeben, jedes Ereignis ist tatsächlich geschehen. All das ist gewesen«, heißt es in der Vorbemerkung. So lesen wir das Buch. – Lesen Sie!.