Das erste Bild ist in seiner Poesie das schönste: ein glänzender blauer Stein liegt auf der Bühne in einem noch undefinierten Raum. Plötzlich räkelt er sich in den Wachzustand und man erkennt die in eine Art himmelfarbene Folie eingehüllte Melanie Straub in den Bühnenhintergrund huschen. Und während man sich noch eine Geschichte fortspinnt zu den rätselhaften Nixenwesen, all den Undinen, Melusinen, Melisandes, all den kleinen Meerjungfrauen dieser Welt, die am Brunnen im Wald verstört aufgefunden werden, auf die ein untermeerisches Königreich wartet, dem sie zu entfliehen suchen, die sich mit dem Meer verbinden wie Ellida, »Die Frau vom Meer«, folgt der aus Trockeneis fabrizierte Nebel als Tribut an die Rätselhaftigkeit, den eine Mitarbeiterin auf offener Szene erzeugt. Aus der Traum. Wir befinden uns nicht in einem tiefenpsychologisch grundierten Deutungsversuch des Stückes des norwegischen Autors, auch nicht in einem seismografischen Bühnenapparat, der eine weibliche Gefühlswelt zu ergründen versucht, wir sind in einer Inszenierung von Barbara Bürk. Und wer Barbara Bürk bestellt, weiß, was er kriegt.
Also Schluss mit dem illusionistischen Realitätstheater, wie sie selbst sagt, her zu den drastischen Mitteln um zu zeigen, bis es schlussendlich auch jeder begreift, dass auf der Bühne etwas hergestellt wird. Gefühle, Gedanken, Kulissen, Kostüme. Alles Mummenschanz. Und weil auf der Bühne etwas hergestellt wird, brauchts auch nicht mehr als eine Textoberfläche, die dann aber mehrfach aufgebrochen, unterbrochen, mit weiteren Texten und vielen musikalischen Beiträgen (Markus Reschtnefki) angereichert wird.
Henrik Ibsens »Die Frau vom Meer« ist die zweite Ehefrau des Arztes Wangel, der mit ihr und seinen beiden Töchtern aus einer ersten Ehe in einer Sommerfrische am Fjord lebt. In dieser Familie ist keiner glücklich, der Arzt erhofft sich vom Besuch eines Oberlehrers und ehemaligen Freundes der Ehefrau eine Aufmunterung. Doch Ellida trauert einer Jahre zurückliegenden Beziehung zu einem rätselhaften Seemann hinterher, der ihr seit geraumer Zeit wieder erscheint und sie jetzt zurückgewinnen will. In der Zeit der Entstehung des Stückes im Jahr 1888 ein heftiger Tabubruch. Wie entscheidet sie sich?
Könnte interessant werden. Doch vom Ensemble wird nicht viel mehr erwartet als dumm-lustige Perücken zu tragen, dumm-selig zu tanzen, auch gerne dumm-falsch zu singen, auf einem einzigen Ton (meistens laut) zu sprechen und sich gerne auch lächerlich zu machen. Und richtig: wie stellt man sich einen verklemmten Oberlehrer vor? Mit schlecht sitzendem Gebiss, Socken in Sandalen und einer Haltung, die Oberlehrer Lämpel aus Wilhelm Busch abgeschaut ist? Richtig geraten! Genau so. Diesmal trifft es Wolfgang Vogler als Oberlehrer Arnholm und er holt auch jede Menge Gelächter vom Publikum ab. Wenn die Welt eine andere wäre, wäre das vielleicht mittelmäßig lustig (obwohl: nicht mal dann), aber wo Mobbing und Ausgestoßen-Werden von Anders-Sein gesellschaftliche Normalität sind, könnte man eventuell mal einen Gedanken daran verschwenden, ob das ein so toller Regieeinfall ist. Schade, wenn Theater zu mehr nicht in der Lage sein will.
Den anderen geht es auch nicht besser. Viktoria Miknevich weiß nicht, wen sie spielen soll. Laut Text Hilde, die jüngere Tochter des Arztes, die noch schwer an dem Tod ihrer Mutter, also Dr. Wangels erster Frau, leidet. Hier ist sie neckisch, sportlich, verblüfft Christian Pütthoff als schwerkranken Hobby-Künstler mit einer astreinen Suada zur männerverschlingenden Vagina und der ewigen Angst des Sohnes vor dem Geschlecht seiner Mutter. Hier ein bloß aufgesagter, dazu erfundener Text, der das Publikum erneut zu Lachern anregt. Klar, so beziehungslos, so frei allen Kontextes, wie er hier dargeboten wird, ists ja auch lustig, eine Anspielung auf die zu Ibsens Lebzeiten gerade aufgehende Psychoanalyse. Uwe Zerwer serviert als Dr. Wangel äußerst routiniert seinen Text ab, als ginge ihn das alles nicht groß an, auch ihn steckt Barbara Bürk bzw. deren Kostüm- und Bühnenbildnerin Anke Grot wie alle Männer in Touristenshorts.
Melanie Straub als Ellida erhält jede Menge Möglichkeiten, ihre rasante Modelfigur herzuzeigen, einmal ist sie sogar fast nackt, klar: Frau = Natur = nackt. Und am Schluss, bei der herbeifantasierten Begegnung mit ihrem ehemaligen Seefahrer-Geliebten, trägt sie ein hautenges Fischschuppen = Perlmutter = Pailetten = Nixenkleid. Gleißende Verführung pur, genau in dem Moment, wo sie in die Arme ihres Gatten zurückkehrt.
Vielleicht wollte Barbara Bürk das: den Ausgang dieser Ibsen-Geschichte unterlaufen, die drei Frauen – Hilde mit ihrer Vagina-Rede, Ellida im Nixenkleid und Christina Geisse als Wangels ältere Tochter Bolette, die vehement das Heiratsansinnen des Lehrers Arnholm ablehnt – in eine feministische Verbindungslinie setzen. Melanie Straub spielt Ellida als eine heftig für sich und ihre sexuellen Rechte eintretende Frau, sehr modern, kein vorrangig von Ängsten eingeschüchtertes Wesen, wozu sie ihr Mann stilisiert und sie sich – der Epoche entsprechend- dann schlussendlich auch selbst. Sie spielt sie als Verkörperung von Barbara Sichtermanns These von der Faszination des hemmungslosen einzigartigen Sex, auch wenn er Angst macht und Ausbruchsfantasie bleibt. Bolette macht oberdeutlich, dass eine Ehe mit ihrem einstigen Oberlehrer nur ein »Handel« wäre, der ihren Wünschen auf ein freies, ungehemmtes Leben diametral entgegenstünde. Sie weist in die Zukunft hinein, in die Möglichkeit anderer weiblicher Biografien, die zu leben wären.
Und Christoph Pütthoff als Patient und Hobbymaler Lyngstrand? Man kann ihm jede Perücke aufsetzen, jedes Zeug anziehen, was immer es auch sei, man spürt eine Menschenzeichnung unter seiner Rollendarstellung, man spürt in all der ausgestellten Lachhaftigkeit die Verzweiflung dahinter. Und damit ist er in »Die Frau vom Meer« das größte Rätsel.
Ibsens »Die Frau vom Meer« am Kammerspiel Frankfurt
