Bei »KrimisMachen 3« in Hamburg saßen wir zum Thema Gewalt zusammen auf dem Podium, so erklärt sich das »Du« in diesem Interview. Seit dem 9. Oktober 2023 ist der neue Thriller von Andreas Pflüger im Buchhandel. Dieser Begriff steht auch auf dem Cover. Vor Jahren, und bevor Pflüger zum Verlag kam, wäre das für einen Suhrkamp-Roman im literarischen Hauptprogramm undenkbar gewesen. – Am Dienstag 14. November liest Andreas Pflüger im Literaturhaus Frankfurt aus »Wie Sterben geht«.
Moskau, mitten im Kalten Krieg: Was hat dich für deinen neuen Thriller dorthin verschlagen?
Mir war schon lange klar, dass ich irgendwann einen Roman schreiben würde, der auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs spielen würde. 1980–1983 – das war: Afghanistan-Überfall der Sowjetunion, Boykott der Olympischen Spiele in Moskau, Solidarnosc, NATO-Doppelbeschluss, das Scheitern von SALT II. Die ultimative Konfrontation des Westens mit dem Warschauer Pakt. Die Welt war seit der Kubakrise nie näher an einem Atomkrieg. Damals spielten die Geheimdienste beider Blöcke Agentenschach auf höchstem Niveau. Literarisch tief in diese Apparate einzudringen, sie zu sezieren, war ein Bedürfnis, eine Herausforderung und eine Lust.
Was hast du dabei gelernt?
Wie irrsinnig naiv wir waren. Wie naiv ich war. Das hat mich regelrecht erschüttert. Ich habe 1981 in Bonn an der großen Hofgarten-Demo gegen den NATO-Doppelbeschluss teilgenommen, nicht wissend – oder nicht wissen wollend – dass der KGB die Friedensbewegung in Westeuropa und den USA massiv unterwandert und gesteuert hat. Der Weltfriedensrat in Genf war praktisch eine Trollfabrik der Ersten Hauptverwaltung des KGB. Den Begriff gab es damals noch nicht, die Russen nannten es »Maskirowka«. Ich liebe das Wort, es kommt in meinem Roman zu seinem Recht. Um daraus zu zitieren: »Vierhundert SS-20-Rakten und zweiundvierzigtausend Sowjetpanzer standen hinter der Elbe. Aber dem KGB war es gelungen, die Sowjetunion zum Opfer und die NATO zum Aggressor zu machen.« Wie wir sehen, ist der KGB in Russland jetzt wieder an der Macht.
Was muss man über den Kalten Krieg wissen?
Alles Nötige erfahren wir doch heute. Es gab auch damals einen Angriffskrieg: Russland überfiel Afghanistan. Es gab Sanktionen des Westens, alle Brücken nach Moskau wurden abgebrochen, und es wurde aufgerüstet. Der Kalte war immer auch ein Heißer Krieg. Beispielsweise standen sich im Jom-Kippur-Krieg 1973 die Machtblöcke gegenüber, das sind gute Zeiten, um Waffen zu testen. Kalter Krieg – das ist nicht zuletzt eine Materialschlacht. By the way ist meine Romanheldin Nina Winter als Analystin des BND mit dem sogenannten »Erdgas-Röhrengeschäft« befasst, das die Sowjetunion 1982 mit der BRD abschloss. Mit dieser Unterschrift wurde unsere Energieabhängigkeit von Russland besiegelt, die uns jetzt auf die Füße fällt. Die westlichen Partner Deutschlands warnten übrigens damals davor, Reagan verhängte Sanktionen.
Hast du schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine mit dem Roman angefangen?
Als Putin am 22. Februar letzten Jahres diesen Wahnsinn lostrat, war ich bereits zwei Monate in der Recherche – und noch fünf Monate vom ersten Satz entfernt. Ich habe einige Tage lang überlegt, ob ich abbreche, habe mich dann aber entschlossen, den Roman jetzt erst recht zu schreiben. Die Kontinuitäten zu unserer Gegenwart aufzuzeigen, habe ich zunehmend als wichtig empfunden. Putin sieht sich ja in der Nachfolge der sowjetischen Herrscher. Und das ist er tatsächlich: genauso verblendet, grausam, gottlos und lächerlich.
Du zeigst auch ein anderes Russland. Ich denke an Anna Achmatowa und Michail Bulgakow, die bei dir vorkommen.
Es war mir wichtig, das Bewusstsein dafür zu stärken, dass Russland ein solch großes, vielleicht einzigartiges kulturelles Vermächtnis hat. Angesichts der heutigen Zustände ist das ein fast unauflösbarer Widerspruch. Ich habe versucht, das auch sprachlich zu fassen.
Seit der Lektüre denke ich oft an die Patriarchenteiche …
Die waren fast schon ein morphogenetisches Phänomen. Beim Schreiben und in der Liebe glaube ich nicht an Zufälle. Ich hatte für Nina eine Wohnung gesucht und mich für die Patriarchenteiche entschieden, vielleicht auch wegen des poetischen Namens. Die Wohnung liegt dicht am Gartenring, ist vom Kreml nur knapp zwei Kilometer entfernt und damit für Nina eine ideale Operationsbasis. Außerdem bietet das Viertel eine prima Laufstrecke. Nina ist ja Leistungssportlerin, zunächst 10.000 Meter, später Marathon. Eine Fähigkeit, die sie brauchen wird, um zu überleben.
Und dann kam Bulgakow?
Lange vor meinem ersten Satz war beschlossen, dass sein Roman »Der Meister und Margarita« bei mir vorkommen würde, ein Buch, in dem der Teufel nach Moskau reist, um die Menschen für ihre größte Sünde zu bestrafen, die Feigheit. Es ist eins von Ninas Lieblingsbüchern. Ich las Michail Bulgakow mit neunzehn. Als ich ihn jetzt wieder zur Hand nahm, stellte ich fest, dass seine Geschichte an den Patriarchenteichen beginnt, das hatte ich längst vergessen.
Irre, nicht?
Das sind die Momente, die einem als Autor das Herz bis zum Hals schlagen lassen. An solchen vermeintlichen »Zufällen« erkenne ich während der Arbeit, ob der Roman gelingen kann. Ein bisschen Metaphysik liegt immer auf meinem Schreibtisch rum. Joseph Joubert hat ja gesagt, dass sie eine Art von Poesie ist.
Ist der Geheimdienstsprech in deinem Buch echt?
Da bin ich penibel. Nur eine Begrifflichkeit habe ich erfunden: »Pink Star« für eine überragende Quelle. In das Wort habe ich mich verknallt.
Wenn man deinen Roman liest, hat man den Eindruck, dass du in Moskau gelebt hast. Wie gut kennst du die Stadt?
(lacht) 1993 war ich für zwei Tage dort, aber habe leider meine Autorenaugen nicht benutzt, lag vielleicht am Wodka. Für den März 2022 hatte ich eine Recherchereise nach Moskau fest eingeplant, aber das ging wegen des Kriegs nicht mehr.
Hättest du nicht über Dubai fliegen können, oder Istanbul?
Ja, achtzehn Stunden mit zwei Zwischenaufenthalten. Doch in Moskau zu recherchieren, während in der Ukraine Menschen sterben, war für mich undenkbar. Also habe ich mich in Videos, Bücher, Zeitzeugenberichte eingebuddelt. Walter Benjamins »Moskauer Tagebuch« von 1926/27 war beispielsweise hilfreich, weil es eine gewisse »Atmo« einfängt, die zeitlos ist. Schlögls »Moskau lesen« hat mir ebenfalls gute Dienste geleistet. Man darf von einem Autor erwarten, eine fremde Stadt – auch historisch – so zu zeigen, als wäre er dort zuhause; das gehört zur Arbeitsplatzbeschreibung. Allerdings ergab sich bald ein großes Problem: Nach dem Fall der Sowjetunion wurden achtzig Prozent der Moskauer Straßennamen geändert. Aber in großer Not naht bisweilen auch Rettung: in meinem Fall ein Stadtplan von Moskau aus dem Jahr 1977.
Ein Stadtplan von Moskau aus der Sowjetzeit? Wie kommt man an so etwas?
(lacht) Ebay. War von Falk, sogar noch originalverschweißt.
Was hat er gekostet? Und kannst du Russisch?
(lacht wieder) Fünf Euro Neunzig. Auf Russisch kann ich gerade mal Konversation im Lokal, mir eine Suppe bestellen und mich erkundigen, wie das Geschäft läuft. Zu mehr reicht es nicht – was ich sehr bedauere. Ich finde die Sprache wunderschön, sie kommt bei mir noch vor Französisch und Italienisch. Der Falk war Gott sei Dank in transkribierter Schrift. Ich habe zu meiner Frau gesagt: »Sollte es brennen und ich nicht zuhause sein, rette zuerst den Stadtplan.« Die Suhrkamp-Webredaktion hat ihn fotografiert, er ist auf einer Sonderseite zum Roman zu sehen.
Du hast wieder ausgiebig recherchiert. Kannst du überschlägig sagen, wie viel Sekundärliteratur es war?
Um die fünfzigtausend Seiten, also weniger als bei »Ritchie Girl«, weil ich in der eigentlichen Geheimdienstarbeit schon zuhause war. Aber bei Recherchen ist es schlussendlich wie im Zen: Lerne alles, und dann vergiss alles.
Zu Beginn des Romans ist Nina noch Analystin in Pullach. Du bist dort sogar in ihrem Büro gewesen, hast du mir erzählt …
Im September 2022 bekam ich die Erlaubnis – meines Wissens als erster Schriftsteller – das BND-Gelände in München-Pullach zu besuchen. Ich bilde mir was drauf ein. Autoren sollen gerüchteweise ja nicht ganz uneitel sein. (lacht)
Und schreibst trotzdem: »Pullach war so tot wie ein überfahrenes Eichhörnchen.«
Die Gemeinde. Auch wenn das Camp tatsächlich auch wie ausgestorben wirkt. Dennoch ist es ein spektakulärer Ort. Man hat das Gefühl, dass dort Gespenster leben.
Kannst du uns das näher beschreiben?
Es war zuerst eine NS-Liegenschaft, die Martin Bormann zwischen 1936 und 1938 als »Reichssiedlung Rudolf Heß« für die Parteielite erbauen ließ. Hitler hat sich dort auf das Münchner Abkommen vorbereitet. Nach dem Krieg quartierte Reinhard Gehlen, vormals Chef von »Fremde Heere Ost«, sich mit seiner braunen Truppe ein. Heute befindet sich auf dem Camp noch die »Technische Aufklärung« des BND, einer der zentralen Bereiche des Dienstes. Theoretisch müssten dort an die tausend Leute arbeiten. Aber während meines Besuchs habe ich keine Menschenseele gesehen. Aus dem Schießbunker hallte es mal. Manchmal schlug ein Wachhund an. Unter Klaus Kinkel als BND-Präsident haben die Zwinger übrigens Fußbodenheizung bekommen.
Warst du nicht auch mal im BND-Neubau in Berlin?
Ja, ich war dorthin eingeladen, um vor Mitarbeitern des Dienstes über meine Recherchen zu sprechen. Aus dem Publikum rief eine Frau: »Sie können doch schreiben, was Sie wollen, wir werden das nie dementieren oder bestätigen.« Ich lege trotzdem großen Wert darauf, in Bezug auf Methodik, Mechanik, Psychologie und innere Abläufe nichts zu erfinden. Ich krieche durch den Kaninchenbau der Wirklichkeit.
In der Wirklichkeit existiert die womöglich größte Ikone des Kalten Kriegs, die Glienicker Brücke. Dort lässt du es schon früh spektakulär krachen …
Ja, ich jage sie in die Luft. (lacht) Einer musste es ja mal machen. Das Todesballett auf der Brücke beginnt nach sechzehn Seiten.
Mich erinnert das an Billy Wilder: »Man fange immer mit einer Explosion an, und dann ganz langsam steigern.«
Zum einen ist das in meinem Roman einfach erzählerisch richtig. Danach gehe ich vier Jahre in der Zeit zurück, zum Ausgangspunkt von Ninas Heldenreise. Darüber hinaus war das Inferno auf der Brücke eine Möglichkeit, meine Hauptfigur schnell einem massiven Belastungstest zu unterziehen. Und was die Glienicker Brücke betrifft: Ich hatte das Glück einen Mann treffen zu dürfen, der 1985 als US-Agent dort ausgetauscht wurde, Eberhard Fätkenheuer.
Deine Heldin wirfst du dort buchstäblich ins eiskalte Wasser.
Ich muss als Autor doch sehen, was sie kann. Ich will wissen, was sie in sich hat. Wie sie mit Angst klarkommt. Wo ihr Limit ist – damit ich sie darüber hinausbringen kann. Bei Nina war ich nach der Exposition beruhigt. Wie Sterben geht, dekliniere ich auf den nächsten 429 Seiten mit ihr durch. »Ihr Leben war vom Tod nur neun Millimeter entfernt«, heißt es einmal.
Nina ist deutlich anders als Jenny Aaron, deine Elitepolizistin in drei Romanen …
Aaron ist eine Killerin im Auftrag des Staates. Sie ist ein Leben lang auf ihre Arbeit vorbereitet worden, ihr Vater hat sie zu einer Maschine gedrillt. Und sie ist eingebettet in eine stabile Gruppe, die »Abteilung«, wo man sich bedingungslos hilft. Nina ist zwar körperlich fit, sie kann besonders schnell rennen, aber sie bleibt weitgehend Einzelkämpferin. Sie lernt boxen und leidlich schießen, kann sich wehren – immer besser im Verlauf des Buches, aber sie macht Fehler. Und mit dem Töten hadert sie.
Jenny Aaron hätte Ninas Todfeind, »Die Motte«, ohne Zögern ausgeknipst, oder?
Ja. Nina hingegen wird in diese brutale Welt hineingeworfen, hineingezwungen. Anfangs wehrt sie sich mit Händen und Füßen, nach Moskau zu gehen. Auch wenn sie es nicht gewusst hat, wird Nina am Ende erkennen, wer sie ist – und schon immer war. Eine Frau, vor der man Angst haben kann, nein muss. Irgendwann sagt sie: »Wer mit dem Tod tanzt, sollte wissen, wie man führt.« Mit dem Tod meint sie sich selbst.
Und du gönnst ihr Sex …
Vor diesen Szenen habe ich immer Angst, das geht allen Autoren so, Männern wie Frauen. Man muss den Akt entkernen, ihn auf das Wesentliche reduzieren, und das ist pures Gefühl, Nähe, manchmal die Gleichzeitigkeit von Glück und Schmerz. Im Nachhinein würde ich sagen, dass es die beste Sexszene war, die ich je geschrieben habe. (lacht) Obwohl Aaron mit Flemming auch ihren Spaß hatte.
Das Gedicht in deinen Romanen schreibst du immer zuallererst? Oder später?
Für mich ist im Gedicht der Kern des Romans enthalten. Das Gedicht hilft mir zu begreifen, was ich eigentlich erzählen will. Warum ich dieses Buch schreibe und kein anderes. Darum beginnt mein Roman für mich mit der ersten Zeile des Gedichts.
Also das, was Alexander Kluge den »Kammerton A« nennen würde?
Das trifft es. Ich brauche lange, es sind Wochen, bis sich eine Tür in diese neue Welt öffnet. Für mich wirkt es, als hätte Rem Kukura es in einer Zelle der Lubjanka als Kassiber auf Klopapier geschrieben. Es ist perfekt, wenn es dann im Roman sogar eine Funktion bekommt.
Deine sechsundvierzig Kapitel haben Überschriften. Was hat es damit auf sich?
Sechsundvierzig? Wusste ich gar nicht, ich hab‘ sie nicht gezählt. Eine Überschrift transportiert bei mir immer den Geist des Kapitels. Ich mache sie, wenn ich eins abgeschlossen habe.
Und du hast das Buch auch wieder selbst gesetzt?
Klar.
Ohne Worttrennungen, was im Grund völlig verrückt ist, oder?
Ich setze den Text schon beim Schreiben, obwohl mir bewusst ist, dass ich ihn noch endlos oft korrigieren und ändern werde. Einen Text ohne Trennungen zu setzen, bedeutet, sich auf jede einzelne Zeile voll zu konzentrieren, immer die beste sprachliche Lösung finden zu müssen. So durchdringe ich den Text immer tiefer und mache ihn besser. Das ist ein dialektischer Vorgang.
Und die Titelschrift?
Als der Coverentwurf kam, gefiel sie mir sofort. Die Designerin hatte sich dafür die ST-Agitaciya ausgesucht, eine sowjetische Propagandaschrift. Brotschrift ist übrigens die Guyot Press. Meine Leidenschaft für Buchgestaltung kann ich nur mit Typomanen teilen, Erik Spiekermann etwa. Mit so jemand kann ich endlos fachsimpeln, das mache ich fast so gern wie schreiben.
Bitte für uns: zehn Glücksmomente beim Schreiben von »Wie Sterben geht«.
1. Als ich das Gedicht beendet hatte
2. Als ich den Stadtplan von Moskau in Händen hielt
3. Als ich den Legationsrat kennenlernte, der dort stationiert war
4. Als ich merkte, dass ich mich in Moskau blind bewegen kann
5. Als Nina zum ersten Mal ihren eigenen Kopf bewies und sich gegen mich durchsetzte
6. Das Lächeln meiner Frau, als sie das erste Kapitel gelesen hatte
7. Als die Russisch-Lektorin, eine Moskau-Kennerin, mir Authentizität bescheinigt hat
8. Als ich merkte, dass Humor sich gut mit dieser Geschichte verträgt
9. Als ich den Besuchstermin für Pullach bekam
10. Als ich fertig war.