Eine mexikanische Familie: »Tòtem« von Lila Avilés

Mit ihrem Regiedebüt »La camarista« (The Chambermaid) machte die Mexikanerin Lila Avilés 2019 auf sich aufmerksam. Der Film wurde auf diversen internationalen Filmfestivals gezeigt und gewann einige Preise, vornehmlich für das beste Erstlingswerk. Mit hohen Erwartungen erhielt sie in diesem Jahr für ihren zweiten Spielfilm eine Einladung zum Wettbewerb der Berlinale.

War ihre erste Arbeit ein sensibles Porträt eines Zimmermädchens, das vom Rand aus die Oberen Zehntausend in einem Luxushotel beobachtet und ihre eigene Persönlichkeit entwickelt, so betrachtet die Regisseurin jetzt eine ganze Familie, die ein großes Geburtstagsfest vorbereitet.
Doch in einem Punkt ist sie sich treu geblieben. Auch in »Tòtem« ist, wenn man so will, eine Außenseiterin die Hauptfigur. Der siebenjährigen Sol (Naíma Sentíes) gehört ein Großteil der Szenen, und ihr Wunsch bei einem Spiel mit ihrer Mutter Lucia (Iazua Larios) deutet schon früh im Film darauf hin, dass es bei den Vorbereitungen einen ernsten Hintergrund geben könnte. Sie wünscht sich nämlich, dass ihr Vater nicht sterben muss.
Und das in einem Alter, in dem man hierzulande die Existenz des Todes vor den Kindern lieber verbergen möchte. Dass Sol so einen Wunsch äußert, nimmt Lucia ganz unaufgeregt zur Kenntnis. Für den aufmerksamen Betrachter ist dies auch ein Zeichen für die Gelassenheit, mit der man in dem mittelamerikanischen Land dem Tod begegnet.
Zunächst einmal herrscht ein aufgeregtes Durcheinander unter den Frauen des Hauses der Familie. Lucia zieht sich zurück, nachdem sie ihre Tochter ihren Schwägerinnen anvertraut hat. Tante Nuria (Montserra Marañion) ist nicht nur mit dem Backen des Geburtstagskuchens gestresst. Die abergläubige Tante Alejandra (Marisol Gasé) hat eine Geisterbeschwörerin (Marisella Villarruel) engagiert, die mit allerlei kurios anmutenden Ritualen das ganze Haus von bösen Geistern zu befreien versucht.
Einziger Mann bei den Vorbereitungen ist Großvater Roberto (Alberto Amador), ein Psychotherapeut, der per Kehlkopfmikrofon seine Meinung äußert. Er beobachtet das Treiben der Frauen mit Skepsis, ganz besonders die Geisterbeschwörungen, die er für verrückt hält. Sols Vater Tona (Mateo García Elizondo) lässt sich die erste Hälfte des Films nicht blicken. Erst langsam kommt heraus, dass der 27-Jährige unheilbar an Krebs erkrankt ist und in einem Hinterzimmer hofft, an seiner Geburtstagsfeier teilnehmen zu können. So weit ist die Krankheit fortgeschritten.
Wie nun die Familie alles tut, um den Ernst der Lage zu würdigen, aber dabei auch das Leben zu feiern, macht die Besonderheit des Films aus. Höhepunkt des Festes ist ein Playback-Auftritt Sols mit Perücke und Clownsnase, der die Sorgen aller um den Zustand des geehrten Vaters nur für kurze Zeit vergessen lässt.
Filme über Familienfeiern, Familienessen, Familientreffen etc. sind in der Geschichte des Kinos so zahlreich, dass man sie nicht zählen kann. Die Familie ist eben – auch wenn dies vielen nicht gefällt – ein wesentlicher Bestandteil menschlichen Lebens. Bei allen Unzulänglichkeiten ihrer Mitglieder kann eine Familie auch Notfälle meistern. Und dies geht anscheinend in Lateinamerika besser als bei uns.
Lila Avilés verwendet alle Mittel, um den Tod als ein natürliches Ende des Lebens darzustellen. Dazu nimmt sie Anleihen an der mexikanischen Kultur, von der wir die lebendigen Bestattungs- und Gedenkrituale kennen. Sie hat ein Kind als Hauptfigur ausgewählt, das die Vorgänge um sich herum oft nicht versteht, wie auch wir manche Vorgänge in unserem Leben nicht verstehen können. Ein sympathisches Kind, das sich vor der Kamera unbefangen verhält und sein großes Herz für Tiere zeigen darf, ist ein Gewinn für jeden Film.
Die Kamera verfolgt mit dokumentarischer Unruhe das Geschehen, das weit entfernt von der üblichen Kinodramaturgie verläuft. Manchmal glaubt man, dass gar kein Drehbuch vorgelegen hat.
Mit diesem »offenen Stil« unterscheidet sich Avilés diametral von ihren mexikanischen Kollegen, die in den letzten Jahren bei den Oscarverleihungen sehr erfolgreich waren. Ihr »Tòtem« ist ein anderer Film, ein ganz besonderer Familienfilm.

Claus Wecker / Foto: © Limerencia Films
>>> TRAILER
Tòtem
von Lila Avilés, MX/DK/F 2023, 95 Min.
mit Naíma Sentíes, Montserrat Marañon, Marisol Gasé, Saori Gurza, Mateo García Elizondo, Teresita Sánchez
Drama
Start: 09.11.2023

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