Eine stenografische Annäherung an Ingrid Mylos neues Buch »Die Entfernung der Sterne«

»Ein Leben ohne Poesie ist das Leben, das ein Monster führt«, hat der amerikanische Dichter Mark Strand geschrieben. Ein anderer (wer?) hat gesagt: »Ohne Gedichte wären wir Barbaren«, während Jón Kalman Stefánsson dem entgegenhält, Kunst sei »die Grundlage dafür, dass der Mensch es sich verzeihen kann, ein Mensch zu sein«. Und damit der Kunst die Möglichkeit zugesteht, Gräuel geradezurücken.

Erst einmal ist Bewegung. An einem kleinen Bach entlang, den zwei Pappelreihen nach. Weiter nach Westen, durch Aragòn. Ja, denkt man, Spanien. Solche Augenblicke kennt man von den gelb überhauchten Schwarz-Weiß-Fotografien aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts, jetzt ist man mitten drin: und nichts hat sich geändert, nicht mal die Farbe. Die Sehnsucht nach der Ferne. Das Ende des Regenbogens. Mohnblumen, unbeherrscht rot und taktlos und als hätten sie ihre eigene Meinung. Und dann aber auch schon gleich: Dort, wo ich wohne. So grün, so still. Am Tannenwäldchen in Kassels Vorderem Westen. Unvermeidlich und wie eine augenzwinkernde Erinnerung an die Anfänge: dieses reizende kleine Café. Ein Gedicht mit dem Titel »Wann immer die Trommeln«. Es endet: »… dorthin/ gelangen, wo die Geheimnisse/ blauer sind, die Ansinnen still/ und voller Libellen.« Die Zeit ein Zauberspruch beim Schriftsteller Andrzej Stasiuk. Eine Schürfwunde. Piranesi. Toiletten in Irland. Und London. Conemarra. Ein blaues Plastikband, nach einem Sturm in den Winterästen einer Kastanie verfangen wie ein Komma, das die Gegend jetzt um einen Nebensatz erweitert. Wieder ein Gedicht, »Wären da nicht Mandarinen«. Ein Garten im Morgengrauen. Motelnächte in den USA. Eine Erzählung mit Margit und Rena und der Überschrift »Das Leben ist keine Kartoffel«. Das sind im Zeitraffer die ersten 20 Seiten von Ingrid Mylos neuem Buch »Die Entfernung der Sterne«, in schöner Ausstattung gerade in der Edition Azur im Verlag Voland & Quist erschienen.

120 Seiten mehr darin warten noch.
So viel Genauigkeit, so viel Schönheit, dass man das Buch gut in kleinen Dosen genießen kann.
Jede Seite eine Schatzkammer.

Es ist so etwas wie die erste Werkausgabe von Ingrid Mylo, die seit über 30 Jahren veröffentlicht – und damit übrigens hier im »strandgut« angefangen hat: mit den legendären »Kaffeeblüten«. Ihr neues Buch enthält neue Texte und ältere, Gedichte, Prosa, Essays, Kurzgeschichten. Ich bin versucht zu sagen, es ist ihr schönstes. So viel Mylo war nie. Fünf Kapitel, jedes breit wie ein Regenbogen. Eine ungeheure Spanne, und tatsächlich ganz viel Gold. Und Reichtum.
Schreiben ist für Ingrid Mylo »ein Versuch, auszudrücken, was wir alles nicht wissen«. Ist eine Suche nach Wahrhaftigkeit. Ich kenne niemanden, der so viel liest – und so genau. Und ich kenne niemanden, der sich beim eigenen Schreiben solche Mühe um die Sätze und ihren Fluss, ja um all die einzelnen Worte macht, sie aufs Mikro-My abwiegt. Die Steigerung vom My ist Mylo, bin ich zu sagen versucht, wäre es kein Kalauer. »Fliegenköpfe« nennt sie die Briefe an Freunde über ihre Lektüre (bei getidan.de), »3 x 11 Spielworte« heißt bei CulturMag.de ihr anderer, spielerischer Blick auf Bücher und Sätze.
Dichtung ist ernst, Lachen verboten, als ob es die Anbetung mindern würde. Dabei kann doch auch Humor göttlich sein, Nektar, den man auf dem Kopfe tanzend, hinaufwärts trinkt (so Jean Paul in seiner »Vorschule der Ästhetik«). Ingrid Mylo hat das nie verlernt, es ist einer der Kraftströme in ihrem Schreiben. Und weiter beim Stenografieren: Rhythmus ist ihr wichtig. Anschaulichkeit ist ihr Ding. Film ihre Liebe. In Theorie sei sie schlecht, sagte sie jüngst im Radio bei HR 2. Sie begreife die Welt in Bildern. Die Feder eines Eichelhähers auf der Straße, der Geruch von Gurkensalat, Schubladen, die sich mit Gegenständen füllen, ein paar Münzen Gefühl, Plunder und Glück, immer wieder Dialektik, nicht selten in verblüffender Gestalt: »Wären da nicht Mandarinen.«
Blumen, immer wieder Blumen, Musik, viel Musik, der Kater Oedipe, Kuchen, Cafés, Flohmärkte, Fotos und Bilder, der gewaltsame Tod im Kino, die documenta, Erlauschtes, ja Dokumentarisches, fiktive Künstlerinnen-Biografien und genaue Blicke auf Autorinnen und Autoren. »Bei Kjell Askildsen waren es nicht einmal elf Sätze, dann wusste ich: das wird eine Sache fürs Leben.« Oder: »Dylans Mundharmonika stöbert die Worte in ihren Verstecken auf: manchmal braucht man Musik zum Denken.« Beim schönen Wort »Patriarchenteiche« in Bugalkows »Meister und Margarita« war ihr sofort klar: »Es gibt Worte, von denen man, schon wenn man das erste Mal auf sie trifft, weiß, dass sie bleiben werden.«
Reisen nach Irland, Dänemark, Spanien, London, der Fotograf Frank Horvat (mit dem sie eine lebenslange Freundschaft verband), der Fotograf Robert Doisneau. Samuel Beckett. Abschiede, Paare, Slapstick-Dialoge. Das Seufzen des Akkordeons beim finnischen Walzer, als ächze jedes Stück Holz im Land. Die Möglichkeit, Märchen zu sein. Staub, wenn er Farbe ansetzt und Muster. Die lichten Risse im Schwarz, so drei der fünf Buchkapitel. WAIT HERE TO BE SEATED, heißt ein wunderbarer, sieben Seiten langer Abschnitt über die Unfertigkeiten in Ingrid Mylos Werkstatt, eine Mischung aus Arbeitsnotizen und Aphorismen. Einige Zitate:

Der Griff nach den Worten: wie oft mischen sich Federn unter jeden Versuch, sie vom Himmel zu holen. Aus dem Keller. Unter dem Laub hervor, wo sie, halb verrottet, die Härte eh nicht mehr haben, die zum Wundschlagen taugt. Kein Grund also, Blut zu verwischen.
***
Lesen Leute die Bücher von verrückten Dichtern in der Hoffnung, möglichst gefahrlos etwas über jene Regionen im Hirn zu erfahren, in die sie selbst niemals gelangen werden?
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Der Schrei steckt im Wort fest, von dem du nicht mal die Umrisse siehst, nicht wie: die Brötchentüten von früher. Wie willst du ein Wort, noch dazu: ungreifbar, noch dazu: der eingeschlossene Schrei, wie bringst du ein Wort zum Platzen: du würdest ertauben. Nimm eine Nadel: die Nacht wäre ein anhaltendes Zischeln.
***
Aus welcher Richtung wehen die Worte heran.
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Worte verlegen: wie einen Küchenboden. Wie einen Schlüsselbund (und du stehst ausgesperrt vor deinen eigenen Sätzen)…
***
Der Kampf um die Worte und gegen Worte: und was hinterher auf dem Papier steht, ist selten das, was gewusst war und gesagt werden sollte. Auf dem Weg nach draußen geht unendlich viel verloren, wird unendlich viel deformiert.
***
Wer war der Fisch, bevor
er im Apfelbaum über die Flüche
des Magiers lachte.
***
Selbst der Regen fällt, wenn Katzen im Zimmer sind, sanfter ins Ohr.
***

Es ist eine ganz eigentümliche, eine ganz eigene Art, wie Ingrid Mylo die Welt zu begreifen und uns davon mitzuteilen sucht. Da ist nichts Epigonales. Da ist Originalität am Werk. Eine, die jedes, aber auch wirklich jedes Wort ernst nimmt und wie ein seltenes Tier/ eine seltene Pflanze behandelt und aufnimmt.
Dazu gibt es gerade eine fast schon spukhaft seltsame Parallelität, die schon auf dem jeweiligen Buchumschlag evident wird. Als seien es kommunizierende Röhren – etwas, was Alexander Kluge sehr gefallen würde – sind fast zeitgleich mit Ingrid Mylos Buch die »Cynaotypes« von Anna Atkins in einem schönen Band im Verlag Benedikt Taschen wieder aufgelegt worden. Sie war die erste Frau, die um 1850 das noch junge Medium der Fotografie wissenschaftlich nutzte und die grazile Anmut von Algen und Farnen mit Hilfe der Cyanotypie einfing, auch als »Eisenblaudruck« bekannt und neben der Daguerreotypie und der Kalotypie das dritte Verfahren zur Herstellung von stabilen fotografischen Bildern. Schönheit also, fotografisch eingeätzt. Im sogenannten »Edeldruckverfahren«.
Auch der Stuhl auf dem Cover von Ingrid Mylos neuem Buch steht vor einem solchen Hintergrund aus leuchtendem Preußisch Blau. – Und das Buch ist dann so poetisch wie die Farne bei Anna Atkins.
P.S. Im Interview hat sie es kürzlich selbst erlaubt: Wozu steht der Stuhl dort auf dem Buchumschlag? Nun, eine Deutung wäre, dass man auf ihn steigen und so die Entfernung zu den Sternen verkürzen könnte …

Alf Mayer / Foto: © Thea Emmerich

 

Ingrid Mylo: Die Entfernung der Sterne. Gedichte, Prosa, Essays. Edition Azur im Verlag Voland & Quist, Dresden und Berlin 2023. 142 S., Broschur, 20 €.
Und siehe auch noch von Ende 2022:
Katherine Mansfield/ Ingrid Mylo: Alles, was ich schreibe – alles, was ich bin. Texte einer Unbeugsamen. Herausgegeben, kommentiert und soweit nicht anders vermerkt aus dem Englischen von Ingrid Mylo. Marix Verlag, Wiesbaden 2022. 224 S., Klappenbroschur, 22 €.

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