Die dunkelste Nacht des Titels ist ernst gemeint in diesem Roman. So finster und unwirtlich war es zuletzt in den Romanen von Derek Raymond oder im Film SEVEN (1995). Für die deutschsprachige Leserschaft ist dieser Roman eine Entdeckung, sein Autor ist uns noch unbekannt.
Verstehen mag das wer will, aber es wirft ein Schlaglicht auf einen nicht funktionierenden Grenzverkehr, wenn einer der am meisten dekorierten französischen Kriminalautoren erst mit seinem dreizehnten Roman bei uns einen Verlag findet – immerhin bei Herausgeber Thomas Wörtche in dessen renommierter Krimireihe bei Suhrkamp. Nichtsdestotrotz: deutsch-französische Osmose mag es zwar auf »arte« geben, im Verlagswesen bestehen Defizite. US-amerikanische Edgar-Preisträger haben gute Chancen, bei uns übersetzt zu werden, aber haben Sie schon etwas über diese französischen Kolleginnen und Kollegen gehört, nur aus den letzten beiden Jahren: Olivier Bordaçarre, Max Izambard, Elsa Marpeau, Gabrielle Massat, Michèle Pedinielli, Solange Siyandje, Pascale Chouffot, Melvina Mestre, Karim Miské, Karim Madani, Jean-Pierre Perrin, Manfred Kahn, Andrée Michaud, Hélène Couturier, Abdel Hafed Benotman oder Éric Halphen?
»Alles, was er in all den Jahren bei der Polizei gesehen, erlebt, bekämpft hatte, während er Rückschläge einsteckte, laut und derb redete, Gefühlsduselei und Gefühlsregungen misstraute, hatte ihn nichts gelehrt, war nur eine Aneinanderreihung von Erfahrungen ohne Sinn. Irgendwann stand er auf, erstickte fast …«
Aus dieser Preisträger- und Nominiertenliste nun also wenigsten der Autor Hervé Le Corre mit »Traverser la nuit« (Éditions Rivages, 2021) bei uns auf Deutsch, von Anne Thomas ebenso geschmeidig wie poetisch übersetzt. Hervé Le Corre, gesprochen: Kohrr, ist ein Autor, bei dem man sich schon mit der ersten Szene angekommen fühlt. Wie weiland Bertrand Tavernier in seinen Filmen mit der Handkamera auf die Straße (oder in CAPITAINE CONAN in den Schützengraben) stürzte, so sind wir in »Durch die dunkelste Nacht« schon gleich auf einer regennassen Straße, frühmorgens: »Es ist März, und seit Tagen hüllt der Sprühregen alles in einen ungesunden, schmutzig schimmernden Glanz.« Eine Frau hat den Notruf gewählt, weil an einer Straßenbahnhaltestelle ein Typ unter einer Bank liegt, reglos und trotz der Kälte nur im T-Shirt, voller Blut. Die drei Polizisten zeichnen sich beim Aussteigen wie tanzende Scherenschnitte vor ihrem Blaulicht mit seinen grellen Lichtblitzen ab. Sie nehmen den großgewachsenen, benommenen jungen Mann mit aufs Revier, müssen im Fahrstuhl die Luft anhalten:
»Sie atmen durch den Mund, weil der Kerl wirklich übel riecht, nicht nur nach Urin und Alkohol, der Gestank in der Kabine ist zum Schneiden, so wie bei manchen Pennern, die sie ab und zu verhaften, wenn die auf der Straße den Mond anbrüllen oder den Regen, der auf sie herunterprasselt, sich wehren oder Rückspiegel zerschlagen, vor Elend wahnsinnig, dreckverkrustet, eingehüllt in einen Geruch beinahe Toter, die Körperritzen bereits von Ungeziefer zerfressen.«
Der Geruch beinahe Toter. Passanten, die wegschauen. Polizeiroutine. Dann ein Gemenge auf der Wache. Plötzlich hat der riesenhafte Typ einem Polizisten die Waffe weggenommen. Alle erstarren, reden auf ihn ein. Einer geht auf ihn zu. Der Typ schießt über seine Schulter, hechtet zum Fenster, stürzt genau in dem Moment ins Nichts, in dem eine Kugel ihm den Hals zerfetzt. Betäubt sitzen sie da. »Gute Arbeit, wie in Algerien«, sagt der Brigadier und klatscht lautlos in die Hände. »Und draußen heult der Wind und ohrfeigt mit großen nassen Händen die Fenster.« – Und da haben wir noch keine der drei Personen getroffen, um die dieses Buch kreisen wird. Aber die Verbindung ist gelegt. Sie wird am Ende wie eine Falltür über uns zusammenkrachen.
Hervé Le Corre – ein souveräner Autor, der seine Leser schon in die blutigen Wirren der französischen Revolution, in die Zwanziger Jahre oder ins Nachkriegsfrankreich entführte – geht in seinem dreizehnten Roman das Risiko ein, sein Buch um ein klassisches Gerüst der Kriminalliteratur herum aufzubauen: drei Personen, deren Schicksale sich im Laufe der Seiten kreuzen. Jede von ihnen geht durch ihre eigene Nacht. Jede hat ihre eigenen Dämonen.
Da ist Louise, um die Dreißig. Nach dem Unfalltod ihrer Eltern war sie in die Drogen- und Alkoholszene abgedriftet. Heute geht sie bei älteren Leuten putzen und lebt allein mit ihrem achtjährigen Sohn Sam, ihrem »kleinen Zauberer«, der ihr das mühsame Leben erhellen kann. Sie ist eine Überlebende häuslicher Gewalt. »Bei der ersten Ohrfeige hat sie sich gedacht, es wäre ihre Schuld«, sie sei halt etwas zu frech gewesen. Immer noch wird sie von ihrem ehemaligen Lebensgefährten belästigt, je vergewaltigt. Eines Tages misshandelt er sie so brutal, dass sie in einem ernsten Zustand zurückbleibt. Außerdem verletzt er Louises beste Freundin schwer. Einmal blättert Louise Baudelairs »Die Blumen des Bösen« auf und liest: »Engel voll Heiterkeit, kennst du die finsteren Mächte …«
Da ist Christian, vor zwanzig Jahren als Elitesoldat im Tschad gewesen. Schlaf ist für ihn »wie ein Grab, aus dem er jeden Morgen aufsteht«. Manchmal versinkt er in ihn »wie ein Stein im Schlick«. Einmal erleben wir ihn – wie Travis Bickle in TAXI DRIVER – vor dem Fernseher: »In einer Luxusvilla reden Frauen und Männer in Badesachen miteinander und streiten sich. Vor allem die Frauen interessieren ihn. Die großen Brüste, immer kurz davor, richtig herauszuploppen, die langen Beine, die optimalen Hintern, und das, was er weiter unten erahnt, am Ende der Spalte. Auch die Männer haben definierte Körper, starke Arme, breite Schultern, Waschbrettbauch, und er denkt, dass er bei diesem Zirkus durchaus mitmachen könnte, vor diesen Waschlappen muss er sich nicht verstecken, wo er doch vier Stunden pro Woche an Maschinen verbringt, sie leisten ihm Widerstand, aber er besiegt sie jedes Mal. Er weiß nicht, wie er inmitten der sich ihm darbietenden Körper der Gier widerstehen sollte, die Frauen ganz und gar auszuziehen, extravagante Nutten, sie anzufassen, ja, anfassen, sich an ihnen reiben und kommen, immer wieder kommen, von einer zur andern …«
Er wüsste schon, wie er sie zum Schweigen bringt. Christian ist ein Mörder, ein Serienmörder. Und er hat eine Mutter, der wir erst richtig Aufmerksamkeit schenken werden, wenn es zu spät ist.
Jourdan, den Polizisten – Commandant Jourdan, Police Judicaire – lernen wir in einem Hausflur kennen. Pulvergeruch. Kaffeeduft aus der Küche rechts von ihm. Um nicht sehen zu müssen, schaut er sich Details an. Die Cornflake-Tüte mit Bärchenmotiv, den PVC-Belag, den hellblauen Lampenschirm. Drei Kinder, acht, fünf und drei, ungefähr. Erschossen im Flur. Die Mutter, als sie aus der Dusche kam. Jourdan zwingt sich, den Hergang zu rekonstruieren. Der Vater hat die Kinder umgedreht, damit er die Gesichter nicht sehen muss. Schuss in den Nacken. Die Frau hat er nicht angefasst. Nur hingerichtet. Im Treppenhaus stehen die Nachbarn. »Erfahren wir vielleicht mal, was hier los ist?«, fragt einer aufdringlich. »Da wird eine Wohnung frei«, knurrt Jourdan ihn an. Mit steifen Beinen und zitternd vor Wut geht er die Treppe runter. So fühlt er sich oft.
»Zitternd, das Herz rast. Oft für nichts und wieder nichts. Er kann gar nicht mehr anders. Versuche, zu verstehen. Überlegen. Ihm ist, als wäre im Lauf der Zeit etwas in ihm abgestorben, abgefallen, und nun wäre lediglich noch ein schmerzender emotionaler Stumpf übrig. Ein wunder Stumpf. Das hat nichts mit dem Idioten zu tun, der ihn gerade angegangen ist. Aber da sind die drei toten Kinder. Diese Frau unterm Fenster, zurückgeschleudert, nackt, zusammengesackt, mit einer Kugel im Kopf … Jourdan weiß nicht, was Männer ins Verderben stürzt. Er will es auch gar nicht mehr wissen. Daher die Wut als einzige Reaktion auf unlösbare Fragen. Letzter Ausweg, ganz hinten in der Sackgasse. Wut, weil man sich da wenigstens lebendig fühlt, weil es nicht so weh tut wie Traurigkeit.«
Später finden sie den Mann. Er hat sich bei seinen Eltern verschanzt. Jourdan geht hinein, trotzt dem Gewehr, die sich auf ihn richtet. Er entwaffnet den Mann. Zwingt ihn, die Namen seiner Kinder zu sagen. Bricht ihm die Nase. Als die Kollegen dazukommen, fühlt er sich wie in einem Glaskäfig eingeschlossen. »Kein Gott. Kein Paradies. Die Hölle ist hier, ohne Horizont oder Jenseits«, denkt Louise wenige Seiten weiter. Wir sind auf Seite 80.
Erträglich, ja schön, wird dieses finster-dunkle Buch durch seine Sprache. Hervé Le Corre, der unter anderem über den peruanischen Avantgarde-Dichter César Vallejo (1892–1938, Paris) und die postmoderne »Poesia hispanoamericana« veröffentlicht hat, schreibt hypergenaue Szenen. Sehr dosiert und wirkungsvoll steigert er sich in Kaskaden. Das französische »et«, die Unds, sind für eine poetische Lizenz, die ihm die Muttersprache erlaubt. »Wir haben das Glück, eine wirklich reiche Sprache zu haben, und wenn ich den Eindruck einer Überdosis an Fakten und Gefühlen erwecken möchte, verwende ich diese ETs in Kaskaden. Das kommt ziemlich natürlich, ohne dass man viel daran arbeiten muss. Außerdem achte ich sehr darauf, nicht zu übertreiben«, meinte er dazu in einem Interview. Noch einmal gilt es, hier vor der Übersetzerin Anne Thomas den Hut zu ziehen.
Dunkel ist Hervé Le Corre schon immer gewesen. »Der Schmerz der Toten« (La Douleur des morts) hieß 1990 sein erster Kriminalroman. »Sand im Mund« (Du sable dans la bouche, 1993), »Die zerfetzten Herzen« (Les Cœurs déchiquetés, 2009) oder »Die Wölfe für Hunde halten« (Prendre les loups pour des chiens, 2017) sind weitere Titel.
Sein mit Preisen überhäufter Thriller »Après la guerre« (Rivages, 2014) spielt am Beginn des Algerienkrieges – siehe oben die Referenz im aktuellen Roman – in einem noch vom Zweiten Weltkrieg gezeichneten Bordeaux »Nach dem Krieg«. Die Narben von Kollaboration und Resistance sind noch frisch. In einem Monat soll der junge Daniel nach Nordafrika, er hat schon von Patrouillen, Hinterhalt, Verstümmelung und Massakern gehört, hat noch dem Verlust von Eltern und Schwester im letzten Krieg zu tun. Warum und für wen soll er jetzt kämpfen? Da setzt der korrupte Polizeichef Darlac, immer noch ein faschistischer Sympathisant, eine Kettenreaktion in Gang. Sein Roman »Dans l‘ombre du brasier« (2019, In the Shadow of the Fire, in der englischen Ausgabe) führt mitten in die »Blutwoche« der Pariser Kommune, mitten in die Französische Revolution, mitten in Kämpfe, Barrikaden, Ruinen, Feuer und Schrapnell. Eine junge Näherin verschwindet, wird von ihrem Bruder, von einem Sicherheitsoffizier und von einem Mitglied der neuen Nationalgarde gesucht.
Immer wieder ist bei Hervé Le Corre die Trauer ein Motiv. Die Trauer um eine geordnete, sinnhafte, friedliche Welt. Alle Gesetze von Moral und Zivilisation nur Zugeständnis an eine Gesellschaft von Wilden, wie es bei Robert Musil heißt. Der Polizist Jourdan, nachts im Auto unterwegs, »die Stadt bei Nacht, die stillen Silhouetten der Passanten, die Gebäude, die Beleuchtung, die entgegenkommenden Autos, die Ampeln an den Kreuzungen, die unerschütterlich ihren Farbcode abspulen, der ganze Ablauf, betriebsbereite nächtliche Kulisse der Industriegesellschaft, und er fragt sich, wie sich all das überhaupt noch aufrecht hält, all die Netzwerke, die Energie, das komplexe Zusammenspiel, so sehr erscheint ihm das Ganze wie ein Kartenhaus, auf das immer noch eins draufgesetzt wird, und noch eine Etage und noch eine, im Vertrauen auf die Stabilität. Er, Jourdan, ist sich sicher, dass es einstürzen wird, dann gehen die Lichter aus, die Bildschirme sind überfordert mit den Bildern, die Stimmen von weit her kommen nirgendwo mehr an … er weiß nicht, wann oder wie, aber er ist sich sicher, dass es dazu kommen wird. Klimachaos, Großbrände, Epidemien, die Spielarten des Schlimmsten stehen bereits fest, die erbarmungslosen Regeln sind allen bekannt, ausschließlich im Futur. Barbarische Zeiten, denen man entgegengeht, und unterwegs lehrt man weiterhin die Kinder das Laufen.«
40 Jahre ist es jetzt her, dass mit »He Died with His Eyes Open« (1984, deutsch: Er starb mit offenen Augen, 1989) der erste der Factory-Romane von Derek Raymond erschien. Le Corre knüpft ganz ohne Epigonentum an ihn an. Auch sein Bordeaux ist wie das London Raymonds »ein graues Zwischenreich, in dem der Wind den Regen durch die dreckigen Straßen peitscht und die Sonne höchstens befremdliche Effekte zu erzielen vermag«, so damals Thomas Wörtche. Was Le Corre daraus macht, das ist eigen. Hat einen Farbstreif Hoffnung, aber nur einen. Und es hallt lange nach.
Alf Mayer