Frankfurt. Banken. Gentrifizierung. Umweltzerstörung. Ausbeutung der Erde. Kriegsfinanzierung. Bestechung. Immerwährendes Streben, immerwährendes Fortschreiten. Wenn man genau hinschaut, dann hat Johann Wolfgang von Goethe in seinem Faust eine enorme Kapitalismuskritik untergebracht, die Fortschrittsgläubigkeit der Wissenschaft auf den Prüfstand gestellt und mit seinem Homunculus einem Vorläufer der KI erschaffen. Glauben ja, Glauben nein, Glauben an wen?
Es ist nachvollziehbar, dass den Regisseur Jan-Christoph Gockel, den Puppenbauer und Schauspieler Michael Pietsch und ihr kongeniales Team exakt dieser Aspekt besonders gefesselt hat, und, so hat Gockel in einem Interview betont, Frankfurt genau der richtige Ort sei, um seine Idee von Faust zu inszenieren.
Was er jetzt auf dieser Riesenbühne abfackelt, in einem unglaublich liebevoll elaborierten Bühnenbild von Julia Kurzweg, das ist an Ideenreichtum schwerlich zu überbieten. Vier Stunden dauert seine Version von Faust 1 und 2, wofür Peter Stein mal ein ganzes weihevolles Wochenende gebraucht hat. Eine halbe Stunde nur flimmert seine hinreißende Nach-Erzählung von Faust 1 vorbei. Dem wesentlich komplizierteren, gehaltvolleren und dystopischen Faust 2 gilt seine größere Aufmerksamkeit.
Obwohl, was heißt hier »größere Aufmerksamkeit«? Während das Publikum noch die Zuschauerränge füllt, liegt eine fahlgraue, ziemlich hässliche Gliederpuppe vorne auf der Bühne, im Hintergrund wischt eine Putzfrau mal kurz durch. Die entpuppt sich dann schnell als der geniale Entertainer Wolfram Koch, der hier den Dialog von Mephisto und Gott, mit sich selbst sprechend, entwickelt – ein Superbild, wie Wolfram Koch da ganz jovial die beiden den Faust als Wetteinsatz ausgucken lässt. Tja, den hat jetzt also Mephisto am Hals, und der macht sich mit vollem Einsatz dran, diese Puppe – niemand anderes als der alte Faust – in tadelloser Erste-Hilfe-Kurs-Manier wiederzubeleben. In Jan-Christoph Gockels Inszenierung wird der Teufel und werden einige weitere Figuren viel Arbeit investieren müssen, um diesen Kadaver immer wieder zu beleben und ihm zu seiner zweifelhaften egomanischen Karriere – auch Leichen pflastern seinen Weg – als Liebhaber, Finanzberater, kriegsführender General und gnadenloser Unternehmer zu verhelfen. Auf Kosten der anderen. Denn ohne die anderen ist Faust nichts, das Faustische steckt in jedem, der in dieser Inszenierung die Puppe bespielt. Und das sind eigentlich alle.
Faust 1 wird nun »als Erinnerung«, so der Szenentitel, in einer Geisterbahn, in Video-Einspielungen und als Puppentheater aufgeblättert. Witziger, ideensatter, rasanter kann man sich diese Tour de Force kaum vorstellen. Eine blinkende Angelegenheit ist das, wie Faust (Torsten Flassig), Mephisto, Gretchen (Lotte Schubert) und die Studenten in Auerbachs Keller als mechanische Puppen choreografiert sind. Kunstvoll, ganz nah bei Goethes Text, anders kann man diese Ausstattung nicht nennen, die bis ins kleinste Detail offenlegt, wovon der heftigst gekürzte und umgeschriebene, umgestellte Text nicht spricht.
»Verweile doch, du bist so schön« hat die greisenhafte Faust-Puppe – obwohl sie sich mittlerweile reichlich an jungem Mädchenfleisch ergötzt – jetzt noch nicht befunden, also muss der Kerl nochmal wiederbelebt werden, um den Pakt zu erfüllen. Da jetzt weltumspannendere Abenteuer anstehen als das kleine muffige mittelalterliche Privatleben des Faust 1, verlegt die Regie das Szenario in einem Einspieler-Video nach draußen an die Straßenbahnhaltestelle der Linie 11, die Kamera (Video: Eike Zuleeg) fährt Frankfurts Bankenfassaden hoch und runter. Und richtig: der Kaiser (Melanie Straub) ist blank, der Kanzler (Christoph Pütthoff) mahnt streng zur Sparsamkeit, da erscheint Mephisto, um sich als schmieriger Nadelstreifen-Bankiers-Narr anzudienen und am Pflaster herumzuschnüffeln, unter dem in diesem Fall nicht der Strand, sondern gewinnbringende Bodenschätze lagern. Die Faust-Puppe zerren sie ins Schauspielhaus, dort hat sich jetzt ein Techno-Club installiert (Kostüme: Janina Brinkmann). Zu Mephistos Ärger hat der nun wieder muntere Faust dem Kaiser die schöne Helena versprochen, aber kein Problem für Wagner (aus Kunsthaut und Krücken zusammengebastelt wie Willem Dafoe in Poor Things: Andreas Vögler), der bei Goethe ja eigentlich den Homunculus züchtet, hier aber einer Cyborg-Helena brutalst Leben einhaucht. Melanie Straub ist da ganz fantastisch. Dasselbe gilt auch für Lotte Schubert, die dem Gretchen eine ganz eigene Gestalt gibt, eher drogenabhängig-süß als schrecklich gläubig, und die als thessalische Hexe/Gretchen eine großartige Liebeszene mit der an sie gefesselten alten Faust-Puppe hinlegt. Auch der im Goethe’schen Sprachmodus parlierende Christoph Pütthoff ist nicht nur als »Des Kaisers neue Kleider«-Kanzler umwerfend.
Mehr soll hier gar nicht verraten werden. Ideen und Überraschungen sind dem Team wahrlich nicht ausgegangen. Nur hat Torsten Flassig, der über die halbe Spielzeit hinweg die Puppe an sich geschnallt (er-) tragen muss, als junger Faust leider nicht die Präsenz, um die gierig-amoralische Titelfigur auszufüllen. Die derangierte graue Puppe, die das Kunststück fertigbringt, aus halbgeöffneten Lidern schmierig zu grinsen, ist da eine triftigere Projektionsfläche.
Man darf nicht vergessen, was im Text verhandelt wird: Goethe hat eine scharfkantige Gesellschaftsvision verfasst, die »künftige Menschen nicht nur fort und fort ergötze und ihnen zu schaffen mache …«
Aus diesem Grund durfte Faust 2 auch erst nach seinem Tod veröffentlicht werden. Die tragische Tiefe und Fülle, die ihm innewohnt, wird hier nicht ausgelotet, sondern weggespielt. Das ist durchaus reizend anzusehen. Aber man muss auch sagen: Die heutige Wirklichkeit, zu der hier eigentlich eine Brücke geschlagen werden soll, übersteigt das Fassungsvermögen eines Puppenspiels, einer Geisterbahn.
Faust 1 und 2 eröffnet die Saison am Schauspiel Frankfurt
