Freies Schauspiel Ensemble bringt »Das dreißigste Jahr« von Ingeborg Bachmann auf die Bühne

Hineinschlafen in sein 30. Jahr – eine ganze Weile liegt ER schon da, in der Mitte auf dem schmalen Steg quer durch den Zuschauerraum des Bockenheimer Titanias – während das Publikum hereinströmt und rechts und links davon seine Plätze einnimmt. Auch SIE, das andere Ich, steht schon da, am anderen Ende. Es dauert eine ganze Weile, bis der erste Satz zu hören ist: »Wenn einer in sein dreißigstes Jahr geht, wird man nicht aufhören, ihn jung zu nennen. Er selber aber, obgleich er keine Veränderung an sich entdecken kann, wird unsicher …« so beginnt Ingeborg Bachmanns Erzählung »Das dreißigste Jahr« aus dem Jahr 1961. Und bei diesem Text bleibt es auch in leicht gekürzter Form, während der 90 Minuten der Aufführung. Ein Prosatext – auf der Theaterbühne? Doch im Unterschied zu einer einfachen Lesung gibt es hier eine ausgeklügelte Choreographie, die verschiedene Beziehungsebenen – Kränkungen, Verwirrungen, Pausen – verdeutlichen: noch ist nichts fertig in diesem dreißigsten Jahr, wie der schmucklose einfache blaue Anzug des Erzählers und das einfache Jeanskleid des weiblichen Ichs, die noch von Heftfäden zusammengehalten und markiert sind (Kostüme: Carin Wagner, Ives Pancera). Der »Schock«, dreißig, also »alt« zu werden, treibt den Protagonisten der Erzählung an, sein Leben bewusster in den Griff zu bekommen:
Eine Reise mit der Bahn steht an, oder ist es eher eine Flucht nach Rom (!), weggehen, das alte Ich verlassen, also aufwachen und – sehr langsam – aufstehen. Ein Freund macht sich bemerkbar – gesprochen auch von Pancera – oder ist es eher ein gefühlter Feind (?), namens Moll, nomen est omen möglicherweise. Die Begegnungen mit einer Frau, imaginiert oder real (?), bringen ein weiteres Spannungsmoment auf den Spiel-Lauf-Steg, der einzigen Bühnenebene, wie immer im FSE von Gerd Friedrich konzipiert. Die Erzählung endet mit der Aufforderung zu handeln: »Steh auf und geh! Es ist dir kein Knochen gebrochen!« … Ausschließlich der bachmannsche Text, einfühlsam und einleuchtend gesprochen von Ives Pancera im Wechsel mit Bettina Kaminski unter der Regie Reinhard Hinzpeters. Ein wichtiges Stück deutscher Nachkriegsliteratur – Ingeborg Bachmann gehörte als eine der wenigen Frauen zur renommierten und berühmten Gruppe 47 (nur zur Erinnerung: Böll, Grass, Enzensberger, Celan und andere berühmte Männer, kaum zehn Frauen in den Anfangsjahren). Nicht nur für alle an Entstehung und Wirkung der deutschen Nachkriegsliteratur Interessierten ein Muss!

Katrin Swoboda / Foto: © Felix Holland
Termine: 4., 10., 31. Mai, 20 Uhr; 5. Mai, 18 Uhr,
www.freiesschauspiel.de

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