Freies Schauspiel Ensemble verlegt »Einsame Menschen« von Gerhart Hauptmann ins Heute

Irgendwann im Laufe der Aufführung wird es einem gewahr, dass Reinhard Hinzpeters Inszenierung des Gerhart-Hauptmann-Stücks »Einsame Menschen« weitestgehend auf Nebengeräusche verzichtet. Kein Gitarrist oder Multiinstrumentalist mit auf der Bühne, der das Dur und Moll der Gefühle paraphrasiert, keine Background-Jauler von Elvis oder Police, nicht mal Eleanor Rigby. Nur ganz zu Beginn, in einer Lauschsequenz aus dem Off, tauschen sich die gerade Oma gewordene Frau Vockerat und ihre Schwiegertochter Katharina zu sphärischem Tastenspiel über den kleinen Philipp aus. Sonst aber ist alles ganz Spiel und Dialog, gilt allein das gesprochene Wort, auch wenn die Sprache nicht mehr (ganz) die des großen Dramatikers ist.
Hinzpeter hat den 1891 uraufgeführten Fünfakter für sein Freies Schauspiel Ensemble ins Hier und Heute übertragen und den Fokus in Text, Personal und Ablauf ganz auf den Kern des Werks, die Beziehungsproblematik, gelegt. Man könnte es eine Soft-Version des weit dramatischeren Originals nennen. »Nach Hauptmann« steht denn auch auf dem Programm einer Fassung, die frei nach Amazon alle ansprechen sollte, die sich auch für Ingmar Bergmanns »Szenen einer Ehe« interessieren.
Johannes, frisch promovierter junger Vater, ist mit seiner Frau Katharina aufs Land gezogen, wo er mit einer Arbeit über die Frankfurter Schule auf einen gesellschaftlich bahnbrechenden Durchbruch sinnt, aber in eine Schaffenskrise gerät. Dass sein nicht minder auf der Stelle tretender kunstschaffender Freund Paul ihm den Rückzug auf das Land als Verrat an den Idealen auslegt und keine Böcke mehr hat auf akademische Diskursiererei, macht die Sache nicht leichter. Derart unverstanden lässt der von sich so Überzeugte seinen Frust an der braven, von der Geburt noch geschwächten Katharina aus, die ihm im Heim, am Herd und anderswo zwar den Rücken freihält – und freizuhalten hat – für seine Mission, sonst aber nur stört beim dialektischen Denken. Vor allem, wenn sie mit unbezahlten Rechnungen der Lieferanten kommt.
Da schneit als Dea ex machina Pauls Bekannte, die selbstbewusste, unkonventionelle und schnell zum Bleiben überredete Kunststudentin Anna Mahr ins Spiel, die Johannes im Nu aufblühen lässt, aber auch der sie bewundernden/beneidenden Katharina zu einer engen Freundin wird, dieweil Anna selbst sich emotional wunderbar aufgehoben fühlt in dem kleinen, von Oma Vockerat vervollständigten Verbund. Zum ersten Mal im Leben, wie sie sagt, was eine ganz schwierige Kindheit vermuten lässt.
Folgt man dem Ablauf, dann ist es wesentlich die Mutter, mit der die leidige Konvention (Die Leute reden schon) das vielleicht sogar mögliche polyamouröse Glück zu dritt verhindert und auf Annas Abschied pocht. Doch kriegt die Studentin wohl auch selbst mit, dass sie das gegenseitige Ungenügen von Katharina und Johannes nicht aufheben kann – schon gar nicht im Hegel’schen Sinne.
Ihr Weggang stürzt den geschockten Akademiker in ein so tiefes Loch, dass Gerhart Hauptmann ihn im nahen See sich ertränken lässt. Bei Hinzpeter dagegen löffeln die Zurückgebliebenen rat- und wortlos eine (selbst eingebrockte?) Suppe. All the lonely people. Alles Weitere ist heutzutage bekanntlich Sache von Therapeuten oder Scheidungsanwälten.
Die Parkettbühne des Titania wird von einem großen meist bedeckten Tisch dominiert, links ein Pult für den Akademiker, rechts ein Abstelltisch insbesondere für Kaffeeservice, auf die Rückwand in wechselndem Licht projiziert, indiziert der ruhende See die jeweiligen Stimmungsschwankungen. Moritz Buch gibt den Zwangscharakter Johannes im grauen Leger-Pulli, Ives Pancera den halodriesken Maler Paul im ockerfarben Oversized-Coat und Magali Vogel ihre recht cool angelegte Anna in kessem Lederjäckchen. Dass sie dann eher uncool wissen will, ob man sie auch lieb hat, geht wohl auf die schon angesprochenen Sozialisationslücken zurück. Kommod gekleidet, herb von Natur und über die Situation verbittert tritt Bettina Kaminskis Mutter Vockerat auf, während Jana Saxlers gänzlich unprätentiöse Katharina im simplen blauen Kleidchen nicht nur optisch besticht, sondern auch von Beginn an alle Sympathien auf ihrer Seite hat. Aufrichtig, offen und stets bemüht, verzweifelt die Arme an einem Neurotiker von Mann, der nicht mal merkt, wie sehr er sie demütigt. Nachgerade köstlich die Szene, in der ein ewig sich missverstanden fühlender Johannes sie seiner Liebe versichert.
Gleichwohl bleibt manches, das uns da vorgespielt wird, im Vagen. Aber wir glauben es gerne, dass sich Anna so gut mit allen versteht. Insbesondere wenn sich in der anmutigsten und zugegeben aufregendsten Szene von allen die plötzlich intime Nähe von Anna und Katharina in einem leidenschaftlichen Kuss offenbart. Muss man sehen. Einsam geht immer.

Winnie Geipert / Foto: Fotos: © Felix Holland
Termine: 30. November, 20 Uhr; 1. Dezember, 18 Uhr
www.freiesschauspiel.de

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