Freies Schauspiel Ensemble zeigt »Volksfeindin« nach Ibsen

»textum« bedeutet Gewebe und mithin den Stoff, aus dem Theaterstücke geschneidert sind. Dass im Theater auch das getragene textum Gewichtiges zu sagen hat, demonstriert ganz schnittmusterhaft das nach Henrik Ibsens Drama »Ein Volksfeind« (1883) gestrickte Stück »Volksfeindin« des Freien Schauspiel Ensembles im Bockenheimer Titania. Denn dort sind insbesondere den betuchten Repräsentanten des kapitalistischen Systems Kostüme angefertigt worden, die ihre Träger, noch bevor sie den ersten Satz gesagt haben, als eitle und schmierige Zeitgenossen entlarven. Der Bürgermeister und der Unternehmer, Politik und Kapital also, treten geschminkt und in glamourösen Anzügen auf, die an Rampensänger von Kirchweih-Combos erinnern. Tatsächlich hat die Inszenierung auch einen musikalischen Part, der meist von der Saalempore herab bestritten wird. Eine Klamotte ist sie mitnichten.
Aber erst einmal für alle, die in der Schule den nordischen Klassiker verpasst haben: Die wissenschaftliche Heilwasseruntersuchung eines prosperierenden Badeorts erbringt, dass die Quelle, die für den Wohlstand des Städtchens sorgt, durch Fabrikabwässer kontaminiert ist. Statt des erwarteten Danks für diese Entdeckung sieht der Kurarzt, der die Untersuchung veröffentlichen will, erst deren Ergebnis bezweifelt und dann sogar sich selbst diffamiert. Um die teure Sanierung zu vermeiden, wird der Überbringer der Nachricht bestraft. Politik und Wirtschaft verteufeln mit Unterstützung der Medien den Nestbeschmutzer, der seine Stellung und sein Zuhause verliert und Objekt des Volkszorns wird. Der Mob wirft ihm die Scheiben ein.
Schritt für Schritt zeichnet Ibsen die Demontage seines Protagonisten nach, dessen familiäre Bezüge – der Bürgermeister ist sein Bruder, der Unternehmer ist Ziehvater seiner Frau – die Techniken der Ausgrenzung umso transparenter machen. Der Kern des Dramas aber ist die Volksversammlung, auf der der Arzt, nachdem ihm per Abstimmung verboten wird, seine Erkenntnis auszubreiten, das gesamte demokratische Verfahren kritisiert und die so genannte »kompakte Mehrheit« als den Feind der Wahrheit bezeichnet.
Das ist dann auch der Stachel, mit dem die weitgehend texttreue Inszenierung von Reinhard Hinzpeter mitten ins Fleisch der aktuellen Debatten stechen will. »Ist es nicht ein zentrales Problem unserer Demokratie, wenn sie ermöglicht, dass eine irregeführte Mehrheit immer wieder eine kenntnisreichere Minderheit niederstimmt und so die Zukunft der eigenen Kinder gefährdet? « heißt es. Dass in »Volksfeindin« aus dem Arzt eine Ärztin (Bettina Kaminski) geworden ist und der Unternehmer (Hans-Peter Schupp) ihr Ex, ist nicht weiter von Belang.
So wird die große Volksversammlung auch hier zum Zentrum der Aufführung – mit dem Theaterpublikum als vermeintlichem Souverän. Nach der großen Ansprache von Kaminskis Ärztin bedient sich ihr showmaster-haft moderierender Bürgermeister-Bruder (Adrian Scherschel) der Klaviatur der Debattendemokratie, um die öffentliche Meinung populistisch einzufangen. Vielleicht wird das mit Schülern als Publikum anders, vor seinem weithin aufgeklärten Stammpublikum wirkt der Versuch doch zwangsläufig ziemlich bemüht. Die wohlwollende schweigende Mehrheit ist jedenfalls froh, als das eigentlich keiner Aktualisierung und spannungsfördernder Stilmittel bedürfende Stück wieder in seine Bahnen findet.
Allerdings hat sich der Regisseur auch noch dazu entschieden, die Charaktere aller Figuren arg zuzuspitzen und seiner Inszenierung damit einen satirischen Unterton verpasst. Der fiese Bürgermeister, der aalglatte Fabrikherr und miese Ex-Gatte, die blauäugige gute Ärztin, die opportunistische Verlegerin (Michela Conrad) mit Rose im Haar und ihr noch viel, viel opportunistischerer jungenhafter Chefredakteur (Ives Pancera) im Revoluzzer-Jäckchen wissen zwar mit starkem Spiel die Aufführung flott und kurzweilig zu machen, sind aber nur schwerlich ernst zu nehmen. Dass es letztlich die bis zur Halskrause zugeknöpfte Tochter der Volksfeindin ist, der wir vertrauen, liegt auch am feinen Vortrag von Jana Saxler. Durch die Musikeinlagen, die ecologically correct zwischen Reinhard Mey, Zupfgeigenhansl und einer Punkband changieren, geraten wir aus dem Drama über die Satire voll in die Revue. Keine Macht für niemand, Patchwork für alle.

Winnie Geipert (Foto: Felix Holland)

Termine:
2. Dezember, 19.30 Uhr;
3. Dezember, 20 Uhr
www.freiesschauspiel.de

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