»Fremont« von Babak Jalali

Ein chinesisches Mahl ohne Glückskekse ist nicht vollständig. Sie gehören dazu und werden deshalb auch mit großer Sorgfalt gebacken, gefaltet und mit einem Zettel versehen. Donya, eine junge Frau aus Afghanistan, arbeitet in einer kleinen Fabrik, die solche Glückskekse herstellt. Sie steht im Mittelpunkt dieses kleinen, schwarz-weißen Filmwunders.

Donya (Anaita Wali Zada) hat als Übersetzerin für die amerikanische Armee gearbeitet. Als die Truppen abzogen, konnte sie rechtzeitig ausgeflogen werden. Sie sagt selbst, sie habe Glück gehabt. Doch ihr Glück ist mit Einsamkeit verbunden. Fern von ihrer Familie und ihren Freunden lebt sie im afghanischen Viertel von Fremont, einer Stadt im Südosten der Bucht von San Francisco.
Als die alte Chinesin, die für die Botschaften in den Keksen zuständig ist, vor ihrem Computert tot zusammenbricht, übernimmt Donya den Job. »Glückskekstexte zu schreiben ist eine verantwortungsvolle Aufgabe«, sagt ihr Chef, ein sympathischer Chinese. »Bewusst oder unbewusst beeinflussen sie den Lauf der Dinge.« Sie müsse stets die Mitte finden, in der die Tugend liege. Nicht zu optimistisch und nicht zu pessimistisch; nicht zu originell, nicht zu banal; nicht zu kurz, nicht zu lang usw. Das habe schon sein Vater, der Firmengründer, so gehalten.
Dies ist auch eine gute Beschreibung für den ganzen Film, in dem der er aus dem Iran stammende und in London lebende Regisseur Babak Jalali das einfühlsame und dabei nüchterne Bild einer Einwanderin zeichnet, die nur aus ihrer Heimat fortkommen wollte, egal wohin. Ganz besonders bei der Darstellerauswahl hat er großes Geschick bewiesen.
Das bezieht sich nicht nur auf Anaita Wali Zada, die in Afghanistan als Journalistin und Moderatorin für das staatliche Fernsehen tätig war und nach der Machtübernahme der Taliban emigriert ist. Sie verkörpert ideal die verschlossene Donya, die mit großen Augen in die Welt blickt, in die es sie verschlagen hat. Wenn sie einmal lächelt, erscheint Ironie im Hintergrund.
Weil sie an Schlaflosigkeit leidet, nimmt sie einen Psychiatertermin ihres Nachbarn wahr, um sich Schlaftabletten verschreiben zu lassen. Mit ihrer Beharrlichkeit wird sie Patientin bei Dr. Arnold, und dessen Darsteller Gregg Turkington ist der nächste Treffer im Ensemble des Films. Die Aufgabe seiner Figur besteht darin, uns Einblick in Donyas Geschichte und seelische Verfassung zu bieten. Sie leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung, sagt er.
Doch bei dieser Diagnose bleibt das Drehbuch von Jalali und seiner Co-Autorin Carolina Cavalli nicht stehen. Dr. Arnold bekommt ein eigenes Profil. Er erklärt, dass er seinen Beruf ergriffen habe, weil er gerne interessante Geschichten höre, speziell von Außenseitern. Sein Lieblingsheld sei White Fang, jene Jack-London-Figur, die aus einem Viertel Hund und drei Vierteln Wolf bestehe. Beim Vorlesen kommen ihm die Tränen, was er hinter seinem Aktenkoffer zu verbergen versucht. Und er schreibt plötzlich selbst Glückskekstexte wie »Ein Schiff ist sicher im Hafen, aber dazu werden Schiffe nicht gebaut« (vielleicht ein bisschen zu originell).
Hilda Schmelling ist als schlagfertige Joanna, Donyas Kollegin und somit ihre einzige Freundin, Partnerin für lakonische Dialoge. Sie, ein alter Imbissbetreiber und ihr Nachbar ermuntern Donya, etwas gegen die Einsamkeit zu unternehmen. Ob der schüchterne Automechaniker Daniel, wunderbar von Jeremy Allen White gespielt, der Richtige ist, bleibt offen. Jedenfalls glaubt auch er, dass er einen verantwortungsvollen Job hat.

Claus Wecker / © Trigon Film
>>> TRAILER
FREMONT
von Babak Jalali, USA 2023, 91 Min.
mit Anaita Wali Zada, Hilda Schmelling, Gregg Turkington, Jemy Allen White, Siddique Ahmed, Taban Ibraz
Drama / Start: 14.12.2023

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