Jadestein des Anstoßes
Gegenstände gebe es eigentlich genug, bescheidet Regisseur Wilfried Fiebig seinen Kollegen Sascha W. (teatrum VII), der seine Flasche gerne mitnehmen würde, am Einlass. Was erst mal nicht wundert, denn der bildende Künstler, Philosoph, Schmuckdesigner und Dozent der Hochschule für Gestaltung stattet von jeher die Produktionen des Ensembles 9. November (E9N) üppig mit Installationen und Requisiten aus, die er selbst entwirft und fertigt in seiner Werkstatt am Ostpark: Gebilde und Kostüme aus Metallstangen, -stäben, -platten, aus Folien, Stoffen oder auch Papier. Allerdings hat Fiebig dies so opulent, so bunt, so vielfältig wie für »Der Traum der Roten Kammer« bisher wenn überhaupt, dann nur selten getan. Mehr noch: So poetisch verspielt und so süffig beschwingt von den Choreografien seiner E9N-Partnerin Helen Körte fallen die gesamtkünstlerischen Arbeiten sonst nur aus, wenn diese selbst Regie führt.
Den Stoff der Inszenierung, die im März Premiere hatte, liefert der zu den Klassikern Chinas zählende gleichnamige Roman aus dem 18. Jahrhundert. Sein Autor Cao Xueqin schildert darin mit der Geschichte des von den Göttern geschickten Pao Yu den Aufstieg und Fall einer chinesischen Beamtenfamilie. Im Jenseits als Jadestein zum nicht eben zuverlässigen »Hüter des Göttersteinglanzes« ernannt, erfährt er nun unter den Menschen im »Garten des großen Anblicks« die Liebe in all ihren Facetten, bevor er wieder zurückgerufen wird.
Verführung und Erotik, Lust und Leidenschaft, Intrige und Tod werden durchlebt, aber auch viel Humor ist dabei, wenn der bildhübsche Jüngling, den es eher zum Puderdöschen als zum Machismo zieht, bei einer älteren Verwandten neue Liebestechniken erlernt und sie später mit jüngeren testet. Und es rührt ans Herz, wenn Pao Yu in der empfindsamen Kusine Blaujuwel die von ihm einst mit süßem Tau gerettete Pflanze Purblau nicht wiedererkennt. Die Tränen, die Purblau ihm als Dank dafür verspricht, löst sie nun in Trauer über ihre im Tod mündende vergebliche Liebe ein.
Das Publikum ist mitnichten gehalten, den dreibändigen Roman in seinen zeitgeschichtlichen Bezügen nachzuvollziehen, sondern aufgefordert, sich ganz dem zu überlassen, was Bilder, Texte, Figuren, die Musik und der taoistische Geist dieses Werks ihn spüren lassen. Es fängt ja schon mit einer Gesangsouvertüre an, die keiner versteht, der des Chinesischen nicht mächtig ist, und die jeden betört, den die von der Koreanerin Hye Jin-Ha am Piano begleitete helle Stimme der Sängerin Xue Wie erreicht. Und es geht damit weiter, dass Pan Yu nur spiegelhaft in dem, was ihm begegnet, erscheint, während Janine Karthaus‘ bezaubernde Blaujuwel die einzige feste Rolle bleibt. In anderthalb Dutzend hinreißend choreografierten phantasievollen Szenen sprechen, tanzen, singen und spielen mit dieser Mirjam Baur, Eric Lenke und Kathryn Schyns die Geschichte dieses Steins, begleitet vom Violinspiel Katrin Bleichs, dem Gesang von Gabriele Zimmermann und dem Geschehen immer wieder unterlegte Kompositionen von Hui Taak Cheung und Bastian Fiebig. In etwa 80 Minuten ist nichts Weniger als etwas Besonderes zu erleben.