»Letztendlich ist uns Homer nur zuvorgekommen.« Mit diesem Zitat von Regisseur Walter Hill als Motto eröffnet Georg Seeßlen sein Buch über die Comicfigur Lucky Luke. Tatsächlich serviert er uns darin »Fast alles über den (nicht gar so) einsamen Cowboy und seinen Wilden Westen«, so der Untertitel. Der im Verlag Bertz + Fischer, Berlin, einem der letzten richtigen Filmbuch-Verlage erschienene Band ist ein Geschenk im Doppelpack, mehr als man bestellt hat – und ja, unbedingt auch als Geschenk! Auf 272 ebenso vergnüglichen wie informativen Seiten ist dies ein fulminanter Ritt durch das Western-Genre und gleichzeitig durch die Comic-Geschichte, wie ihn nur ein alter Trapper und Goldsucher wie Georg Seeßlen hinlegen kann: phä-no-me-nal!
Seeßlen, unser letzter Enzyklopädist, blättert uns mit dem Porträt der kleinen Comicfigur aus Belgien noch einmal das ganze Breitwandbild des Westerngenres auf. Alle großen Geschichten des Abendlandes und weit darüber hinaus, von der »Odyssee« über »Romeo und Julia« bis zu »Rashomon«, sind auch in der Form des Western erzählt worden, findet er, blättert uns dafür den Westernkanon und seine Grundmotive und Varianten auf. Dies immer anschaulich und lesbar. So geht fröhliche Wissenschaft.
In seinem Vorwort beschreibt Georg Seeßlen (Jahrgang 1948) seine eigene Sozialisation mit Western und mit Comics: »Der Western war für mich eine Schule des Sehens, und die Lucky Luke-Comics, ganz anders als sonstige komische und kindliche Westerngeschichten, hatten diese Lektion schon intus, waren nicht nur Abenteuer von Helden und Schurken, sondern auch Abenteuer des Auges.« Lucky Luke war für ihn nicht nur eine Parodie des Westerns, nicht einmal nur eine Liebeserklärung an das Genre, Bild für Bild, »für mich war es auch eine Vollendung. Es steckt einfach die Essenz des Western in den Bildern von Lucky Luke«.
Bei Lucky Luke wie auch bei Tim und Struppi, denen der Autor ebenfalls schon ein Buch gewidmet hat, wurde vermutlich die Grundlage dafür gelegt, dass aus Georg Seeßlen ein solch großer Bilderleser geworden ist. Irgendwie, schreibt er, »wurde mir klar, was eine bestimmte Strichgröße, ein Hinzufügen oder Weglassen, bedeutet. Was mit Augen, Mündern, Bewegungen, Bildausschnitten und Perspektiven gesagt werden kann. Warum es so schön ist, wenn ein Panel – also ein Einzelbild in der Folge der Bildreihen – Details oder Kleinigkeiten im Hintergrund aufweist, die die Lesegeschwindigkeit verzögern, selbst da, wo es eigentlich gerade spannend wird. Die Abenteuer von Lucky Luke … überflog man nicht einfach, man versenkte sich, man war, für eine gewisse Zeit, darin zu Hause.« Rings um Lucky Luke entstand immer eine ganze Welt. »Gewiss passierte dauernd was, es wurde geschossen, geschlagen und geritten, was das Zeug hält. Aber es war eben auch viel Raum für das Land darum herum, unendlich viele Details, die immer wiederkehrten, Nebenfiguren, die einfach dazugehören, Dinge, die geschahen, ohne ausgesprochen zu werden.«