Kathrin Bachs Erzähldebut »Lebensversicherung«

Sie kommt aus Hessen, vom Land. Sie lebt in Berlin und schlägt sich so durch, zwei Lyrik-Bände hat sie inzwischen veröffentlicht, sie lektoriert, veranstaltet Workshops – und schreibt: ein Buch, sicher stark autobiographisch geprägt, Roman genannt, obwohl die Bezeichnung »Katalog« auch gut passen würde, originell, fast schon kühn in der Anlage, tausend Splitter, die, paradox, aber gar nicht so überraschend, ein gestochen scharfes Bild, ja sogar eine Geschichte ergeben: von einem Mädchen, seiner Familie, der (dörflichen) Umgebung, dem Gewerbe, dem sie nachgehen, Versicherungen, dann den Ängsten, die sie ausstehen, den Freuden, die sie erfahren, ja: von der Welt, in der sie leben. Also doch: ein Roman, und zwar ein bemerkenswerter.

»Ich bin vierunddreißig Jahre alt und habe Angst.« Die Ich-Erzählerin hat Angst, und das seit ihrem dritten Lebensjahr. Zusammen mit Mutter und Großmutter überlebte sie damals einen schweren Autounfall. Tatsächlich haben ihre Großeltern und dann auch ihre Eltern ein Leben lang mit der Angst der Menschen Geld verdient. In den kleinen Dörfern, in denen sie ihr Leben lang lebten, hatten sie sich ein Monopol erworben: Versicherungen. Kaum ein Bewohner, der nicht bei ihnen versichert war. Man kann sich zwar gegen (fast) alles, was passieren kann, versichern, nur für den Fall, dass so ein Fall eintritt, wie er einst für das Kind eingetreten war, gibt es keine Versicherung.
Und das bedeutet, für die Erzählerin, Angst. Und zwar ein Leben in Angst.
Aufgewachsen ist sie in einem kleinen hessischen Dorf, das nicht näher lokalisiert wird. Es gibt dort »eine Buswendeschleife, einen Sportplatz und ein Dorfgemeinschaftshaus mit Gastwirtschaft«, zum nächsten Supermarkt kommt man nur mit dem Auto.
Mit jedem weiteren Eintrag in diesen Katalog des alltäglichen Lebens lernen wir die (kleine) Welt des Kindes, der Schülerin, der jungen Frau, ihrer Eltern, Großeltern und Nachbarn näher kennen. Kathrin Bach kommt nie in Versuchung, kontinuierlich zu erzählen. Sie präsentiert Schnipsel des Geschehens, Kundengespräche, historische Daten, kuriose und alltägliche Begebenheiten, Kindheitsstreiche und regelrechte Tragödien, alles steht gleichwertig nebeneinander, meist in wenigen Zeilen, selten auf ganzen Seiten. Sie beschreibt ihr Kinderzimmer, das Haus, in dem sie fast alle ihre Nachmittage verbringt, die Schule und später, als sie längst schon in die Fremde gezogen ist, ihre Besuche zu Hause.
Ein Flickenteppich, der sich am Ende als Panorama präsentiert.
Dem Kind und dann auch der jungen Frau ist häufig übel. Aber auch das hat sie im Griff, immer hat sie eine Spucktüte dabei. Eine Art Versicherung, die sie tatsächlich nie gebraucht hat. Hauptsache: der Zufall wird ausgeschaltet.
Familie mitsamt Großeltern, Tanten und Onkeln, spielen eine wichtige Rolle in dem Leben unserer Protagonistin. Das alles wird lapidar und unspektakulär erzählt. Man sitzt zusammen, isst gemeinsam, spielt dann oft noch Rommé.
Doch das Mädchen, später dann die junge Frau, leidet (zunehmend) an Ängsten. Ängste, die jeden Abschied zur Qual werden lassen: eventuell sieht man sich ja nie wieder. Sie versucht, sich dagegen abzusichern, mit Hilfe eines Psychologen, den sie jeden Donnerstag um 9.30 Uhr aufsucht. Er soll ihr gegen die eben nicht versicherbaren Katastrophen Halt geben.
Panik überfällt die Erzählerin aber immer noch beim Anblick eines Krankenwagens. Doch einmal ist ihre Überraschung groß. Kein Verletzter röchelt auf der Bahre sein Leben aus. Stattdessen ist ein Sanitäter auf dem Beifahrersitz. Der andere »steht neben ihm auf der rutschigen Straße«. Beide essen einen Hamburger und die Erzählerin beschließt daraufhin, sich wenigstens »Pommes mit Mayo« zu gönnen.
Zu dieser Zeit scheint sie der kleinen Welt ihres Dorfes entwachsen. Aber richtig los wird sie es nie. Es sind starke Bindungen, die hier wirken. Nicht zuletzt durch die Versicherungen. In ihnen sind die Besonderheiten, ja die Geheimnisse der Bewohner gespeichert. Das Leben und Sterben.
Das Ergebnis des Ganzen ist erstaunlich. Die vielen Splitter ergeben ein geschlossenes Bild – nicht nur einer Familie, einer Dorfgemeinschaft, sondern des Lebens abseits der Städte und Metropolen. Einer Gegenwart, die so ganz gegenwärtig nie geworden war. So heißt es zum Schluss:
»– Un, wie is?« – »Zu Ende.«
Das hätte, ohne Schaden, schon ein paar Seiten früher kommen können. Trotzdem bleibt das Fazit: ein leicht irrer, schwer erstaunlicher, wirklich ungewöhnlicher »Roman«.

Sigrid Lüdke-Haertel / Foto: Kathrin Bach, © Julia Vogel
Kathrin Bach: »Lebensversicherung«. Roman. Azur im Voland und Quist
Verlag, Berlin 2025, 240 S., 24 €

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