»Der Wirklichkeit keine Gewalt antun« – Der erste deutschsprachige Hardboiled-Roman stammt aus Wien und dem Jahr 1953Der erste deutschsprachige Hardboiled-Roman stammt aus Wien und dem Jahr 1953

George Maine nippt, nach seinem Beruf gefragt, an seinem Glas. »Zigaretten«, sagt er lakonisch.
»Wieso kommst du dabei mit den Russen zusammen?«, fragt Petre Margul verständnislos. »Das sind doch amerikanische Zigaretten.«
Georges lehnt sich mit einem Lächeln zurück. »Ja. Das ist die Geschichte, die ich dir erzählen wollte. Du bist ein intelligenter Bursche, du wirst sicher sofort begreifen. Alle Zigaretten dieser Art, die es in Europa gibt, kommen aus Tanger. Freihafen. Internationale Zone. Dort verkaufen die Amerikaner en gros. Zehn Cent das Paket. Für jeden, der es kauft. Und jetzt pass auf. Einer der größten Einkäufer ist die Kommunistische Partei Ungarns …«
Petre hat immer geglaubt, dass die amerikanischen Soldaten ihre Zigaretten verkaufen. Georges klärt ihn über den Weg der Zigaretten auf. auf. »Das sind nur kleine Mengen. Die spielen überhaupt keine Rolle. Die große Masse kommt aus Budapest.«
Und wie kommen die da hin? Auf einer rasanten Buchseite blättert der Roman die Schmugglerrouten auf. In Nordafrika werden die Zigaretten in Blechkisten verpackt und gehen per Schiff nach Italien, aber nicht in die großen Häfen, sondern irgendwo, wo es seicht ist. Dort werden die Kisten ins Meer geworfen. In der Nacht holen sie die Fischer an Land, dann gehen sie in plombierten Waggons als Transitgut durch Österreich an die Budapester Deckadressen. Aber Wien?
Aber »wie kommt Kuhdreck aufs Dach?«, lacht Georges. »Man hat seine Freunde.«
»Die Russen«, wirft Petre ein.
»Sicher. Es ist doch ihr Geschäft. Sie bringen sie selbst herüber, mit ihren eigenen Autos und ihrem eigenen Personal. Niemand hat das Recht, sie zu kontrollieren. Auf der Straße zwischen Baden und Wiener Neudorf wird die Ware dann von unseren Leuten übernommen …«
»Kansas City, Tanger, Genua, Budapest und Wien«, sinniert Petre. »Ost und West. Eine Ballade. Alle verdienen.«
»Da liegt der Hund begraben«, stimmt Georges zu. »Du bist doch so ein halber Marxist. Du musst das verstehen. Ökonomie. Ökonomie, das ist das Ausschlaggebende. Politik, das ist der Überbau. Opium fürs Volk. Es kommt nur auf die Millionen an. Auch für die Herren Kommunisten. Darum ist es in Österreich so ruhig. Weil alle verdienen. Sie verdienen in aller Ruhe. Wie lange bist du denn schon in Wien? Drei Wochen.«
George ist seit 1945 da. Ist als Flüchtling gekommen. »Wie ein Idiot. Wie ein Idiot habe ich zugeschaut. Man muss zuschauen, wie die anderen das Spiel machen, das große Spiel um die Millionen. Wien ist ein offenes Tor. Das letzte offene Tor zwischen Ost und West.
Weiß du, warum es hier so ruhig ist? Weil sie hier verdienen. Zigaretten, das ist nur ein winziger Bruchteil. Öl, Eisen, Stahl, Textilien. Alles, was dein Herz begehrt. Schnaps, Medikamente. Devisen machen sie hier, für ihre Panzer und für ihre Kanonen …«
»Eigentlich verdienen sie mit Blut«, sagt Petre plötzlich ernüchtert. Georges hört nicht auf. »Hier wird verdient … Mir ist das egal. Ich habe mein Geld auch draußen. Dem Bankdirektor ist es ebenso egal … Verdient wird hier. Das kostet manchmal Blut, du hast Recht. Aber es rentiert sich.«

Diese Passage findet sich im Roman »Internationale Zone« von Milo Dor und Reinhard Federmann, 1953 im Forum Verlag Wien und Frankfurt erschienen. Dankenswerter Weise jetzt wieder aufgelegt anlässlich »80 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg« im Picus Verlag, der von Reinhard Federmanns Tochter mitbegründet wurde. Der Blick aus der Distanz erlaubt nicht nur die fieberhaft aufregende Neuentdeckung eines taufrisch daherkommenden Krimiklassikers, er erlaubt auch eine literaturhistorische Einordnung, die nichts weniger als eine Sensation ist. »Internationale Zone« ist der erste deutschsprachige Hard-boiled-Roman in der Tradition von Dashiell Hammett und Raymond Chandler, ist ein kultureller Transfer, den die Literaturwissenschaft – sofern sie sich überhaupt für den Kriminalroman interessiert – bestenfalls 30 Jahre später mit den Büchern von Ulf Miehe, Jörg Fauser und dann Jakob Arjouni in deutschsprachigen Landen verortet hat.

Bei Milo Dor und Reinhard Federmann findet sich das alles – lupenrein – schon in den frühen 1950er Jahren. Wahnsinn!

Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass die Pioniertat dieser beiden Autoren sogar aus einem Terzett besteht. Es gehören nämlich die ebenso interessanten Politthriller »Und einer folgt dem anderen« (1952) und »Und wenn sie nicht gestorben sind …« (1956) dazu. Der letzte Titel wurde 1996 im Picus Verlag als Hardcover und mit einem Nachwort von Milo Dor neu aufgelegt. Band 1 erlebte seine letzte Neuauflage 1966.
Viel Gras also über einem literaturhistorischen Meilenstein. Es lohnt sich, hier den Spaten anzusetzen. Die Borniertheit der Literaturwissenschaft und des (»Ach, Krimis lese ich nicht«) Feuilletons offenbart sich bei Milo Dor und Reinhard Federmann gleich im Doppelpack. Dass die beiden – auch autobiografisch mit beträchtlichem Erfahrungshintergrund ausgewiesenen – Schriftsteller mit ihren drei wegweisenden Kriminalromanen nicht wahrgenommen wurden, ist eine Sache. Sie hatten sich ja eh nur – so eine beliebte Figur der »höheren« Literatur-»Kritik« – darauf verlegt, weil sie damit »schnell Geld verdienen« wollten. Bei Karl-Markus Gauß, der es für einen kleinen Literaturpapst gut mit den Beiden meint, liest sich das 2023 aus Anlass ihres hundertsten Geburtstags so:

»Milo Dor hat einmal mit Witz und Wut beklagt, der einzige österreichische Schriftsteller zu sein, nach dessen Vornamen in Kreuzworträtseln gefragt werde, während seine Romane nach jeder Neuauflage doch wieder rasch vergessen würden. Daran hat sich bis heute nichts geändert … Der Zufall will es, dass sein Freund und Weggefährte Reinhard Federmann nur kurz vor ihm zur Welt kam, am 12. Februar 1923, und daher in diesen Wochen des 100. Geburtstages zweier Autoren zu gedenken ist, die in den Fünfzigerjahren, um zu Geld zu kommen, übrigens eine Reihe von schnell hingeschriebenen Kriminalromanen gemeinsam verfertigt haben.«

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: »… eine Reihe von schnell hingeschriebenen Kriminalromanen gemeinsam verfertigt haben.« So redet und urteilt die Literaturkritik auch heute noch über diese Gattung. Näheres Hinschauen braucht es hier als anständiger Buchmensch gar nicht.
Und auch noch im Nachhinein, in der Zuschreibung eines literarischen Schicksals, funktioniert der »double bind«. Zum Kriminalroman kamen Federmann und Dor nämlich nur und erst, weil sie als ernsthafte Autoren keinen Erfolg hatten. Deshalb, so die doppelt diffamierende Sichtweise, verlegten sie sich aufs Kriminalgenre.

Tatsächlich handelt es sich bei Milo Dor und Reinhard Federmann um zwei bemerkenswert funkelnde Solitäre. Jederzeit einer Neuentdeckung wert. Sie teilen das Schicksal, so Gauß, »dass sie mit ihren besten Werken eine kritisch-realistische Literatur verfassten, die es den offiziösen Legenden der österreichischen Literatur zufolge gar nicht gegeben hat«. Milo Dors großer Roman »Tote auf Urlaub« von 1952, in seiner Behandlung der Folter dem Werk von Carl Améry ebenbürtig, und Reinhard Federmanns Hauptwerk »Himmelreich der Lügner« von 1959 setzen sich ambitioniert und politisch unversöhnt mit der jüngsten Vergangenheit, mit Austrofaschismus, Mitläufertum und Nationalsozialismus, mit Folter, Vertreibung, Holocaust und mit dem realen Widerstand auseinander. In beiden Romanen attackieren sie das Große Vergessen, im Wiederaufbau und Wirtschaftswunder zur Staatsdoktrin geworden, und das Kollektive Schweigen über Verbrechen, Verstrickung und Verleugnung. Allein diese beiden Bücher widerlegen das weitverbreitete Urteil, die österreichische Nachkriegsliteratur sei weitgehend unpolitisch gewesen und was an Neuem nachkam, dann experimentelle, der Avantgarde verpflichtete Literatur.

Dor und Federmann waren ernsthafte Schriftsteller, die auch als Kriminalautoren politisch waren – und avantgardistisch. Speerspitze der Bewegung. Es war kein Zufall, dass ihr erster Kriminalroman, »Und einer folgt dem anderen« im Nest-Verlag von Karl Anders herauskam. Der war Anfang der 1950er in Frankfurt heimisch geworden, wurde sogar von der »Frankfurter Rundschau« als Geschäftsführer geholt – was jedoch bis heute von der ach so sehr auf ihre Vergangenheit stolzen Zeitung in ihren Annalen totgeschwiegen wird. Dieser Karl Anders, Anarchist, Kommunist, Widerstandskämpfer, Sozialist, hatte im Exil im englischen Oxford den typischen deutschen Dünkel gegenüber Kriminalromanen überwunden – das nicht ganz freiwillig, das aber wäre eine andere Geschichte. Jedenfalls kehrte er zusammen mit Hughes Greene (ja, dem Bruder von Graham) als einer der ersten Exilanten ins zerstörte Deutschland zurück, berichtete für das Deutschland-Programm der BBC vom Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess, gründete einen explizit politischen Verlag , den er, wie sein Freund und Vorbild in England, Victor Gollancz, mit der Herausgabe »moderner« Kriminalromane zu finanzieren gedachte. Karl Anders war deshalb der Erste, der die Romane von Dashiell Hammett, Raymond Chandler und Eric Ambler ins Deutsche bringen ließ (übrigens von befreundeten Exilanten, die ansonsten Shakespeare oder Homer übersetzten). Für Karl Anders waren »Kriminalromane die Literatur der Demokratie. Der Kriminalroman und sein Detektiv sind nur in einer Welt möglich, die nicht der Allgewalt des Staates, der Gestapo oder des NKWD ausgeliefert ist. In einem Polizeistaat ist ein Sherlock Holmes selbst als literarische Figur undenkbar.«

Milo Dor und Reinhard Federmann wählten sich für ihre »Reihe von schnell hingeschriebenen Kriminalromanen« (noch einmal Karl-Markus Gauß) die blanke, damals für jeden Leser nachvollziehbare Realität, nämlich das wie Berlin zwischen vier Besatzungsmächten aufgeteilte Wien der Nachkriegszeit, ein »Exerzierfeld der Ost-West-Rivalität« (Otto Klambauer: Der Kalte Krieg in Österreich, 2000). Wien ist bei ihnen eine heruntergekommene, zwischen Gangstern, Schmugglern, Schwarzmarkt-Herrschern und Machtblöcken aufgeteilte, nur dem Recht des jeweils Stärkeren unterliegende Zone – wie auch Dashiell Hammett sein Poisonville in »Rote Ernte« beschreibt. Noch antiheroischer als bei Hammett agiert das Figurenensemble. George Maine und Petre Margul haben Sie ja bereits kennengelernt. Der gerade aus der Haft entlassene Tierarzt Boris Kostoff, der an sein gebunkertes Geld kommen will, eine Nachtclub-Tänzerin namens Kyra und zwei Dutzend anderer Halbwelt-Gestalten gehören auch dazu. Auf zwei Zeitebenen tänzelt und wirbelt dieser vorbildlich kinetisch gebaute Roman über sein Parkett, hat nicht nur wegen der geradezu filmisch eingesetzten Fahrzeuge und der scharfzüngigen Screwball-Dialoge ordentlich Tempo. Im Kampf mehrerer Schmugglerbanden, die sich mit den Besatzern arrangiert haben, zeigt sich – wie bei Hammett und Chandler und in bester Hard-boiled-Tradition – die Verfilzung von Verbrechen mit Politik und Geschäft.
»Ich glaube, dass wir im deutschsprachigen Raum die ersten waren, die versucht haben, eine für unsere Gefilde neue Art des Kriminalromans oder, besser gesagt, des Thrillers zu schreiben, in der es nicht so sehr darauf ankam, einen Übeltäter oder eine Übeltäterin durch spitzfindige Untersuchungsmethoden eines Inspektors zu überführen und den Justizbehörden auszuliefern, sondern eher auf die Schilderung gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse, unter denen halbwegs normale Bürger zu Kriminellen werden«, schrieb Milo Dor im Nachwort von »Und einer folgt dem anderen …«
In einer Taschenbuchausgabe von 1966 war das so verkürzt: »Es ist ein ernstes und heiteres Buch zugleich. An satirischen Seitenhieben ist kein Mangel und der schlaglichtartige Humor erhellt für uns Situationen, die tragisch und komisch sind. Die Handlung ist bunt und handfest, die Lebenden und Toten sind keine papiernen Gestalten, und der Wirklichkeit wird keine Gewalt angetan. Der Leser wird außerdem mit schmunzelnder Dankbarkeit feststellen, dass die Autoren ihren Mordsspaß hatten, als sie das Buch schrieben, einen Kriminalroman, der blutvoll und vergnüglich ist.«

Selten hat eine literarische Neuentdeckung so viel Spaß gemacht.

Alf Mayer
Milo Dor, Reinhard Federmann: Internationale Zone. Roman.
Mit einem Nachwort von Günther Stocker. Picus Verlag, Wien 2025. (Erstmals erschienen 1953.) Leinen, Lesebändchen, 256 Seiten, 24 Euro.

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