»Luftkrieg – Die Naturgeschichte der Zerstörung« von Sergei Loznitsa

Die Zerstörung deutscher Städte durch alliierte Bombardements im Zweiten Weltkrieg gehört nicht zu der hierzulande gern beschworenen Erinnerungskultur. Das ist dem ukrainischen Regisseur Sergei Loznitsa aufgefallen. Und weil er ein unbequemer Filmemacher ist, der sich gern mit unangenehmen Themen beschäftigt, hat er sich von W.G. Sebalds Buch »Luftkrieg und Literatur« zu einem äußerst eindrucksvollen Dokumentarfilm anregen lassen.

Sebald hat die nach seiner Meinung unzureichende Verarbeitung der Endphase des Zweiten Weltkrieges in der deutschen Literatur aufgegfiffen. Die deutschen Schriftsteller hätten es versäumt, der Nachwelt ein Bild von dem Ausmaß und den Folgen »der durch den Bombenkrieg über Deutschland gebrachten Katastrophe« (zitiert nach Wikipedia) zu vermitteln.
Loznitsa hat nun versucht, die Erfahrungen der Zivilbevölkerung vor, in und nach dem Krieg anhand von Filmmaterial aus mehreren Archiven darzustellen. Er hat gewissermaßen nachgeholt, was die deutschen Literaten nach Sebalds Ansicht, wenn überhaupt, dann nur unzureichend thematisiert haben. Und er hat dafür ein Medium gewählt, das durch seine Unmittelbarkeit besonders eindringlich wirken kann.
Eine Viertelstunde heile Vorkriegswelt gönnt er uns mit Bildern von malerischen alten Gassen, vom Straßenverkehr in Berlin, von einem Fest, auf dem getanzt wird. Noch ahnen die Menschen nicht, was ihnen bevorsteht.
Nach einem Schwenk in den Himmel wird es dunkel. Es folgen Nachtaufnahmen aus Flugzeugen, Lichtblitze von Bombentreffern, und wir sehen die Bomben tagsüber aus den Ladungsklappen fallen. Es ist eine abstrakte, unpersönliche Szenerie, die losgelöst ist von dem, was sie anrichtet.
Noch abgehobener vom Ergebnis ihres Handelns sind die Menschen in der Rüstungsindustrie.
Den Ernst der Lage unterstreicht Wilhelm Furtwängler, der vor andächtig lauschenden Arbeitern in einem AEG-Werk das Vorspiel zu Wagners »Meistersingern von Nürnberg« dirigiert. In England hält General Montgomery vor den Beschäftigten in einem entsprechenden Werk eine launige Rede, in der er betont, wie wichtig es sei, sich kennenzulernen und sich im jeweiligen Job aufeinander verlassen zu können.
Premierminister Churchill erklärt, er wolle Deutschland durch die Zerstörung der Städte mit Kriegsindustrie zur Kapitulation zwingen. Die Zivilbevölkerung könne sich aufs Land zurückziehen und von dort die Zerstörung ihrer Wohnungen beobachten.
Goebbels spricht vom »Gegenterror«, mit dem der alliierte »Bombenterror« beantwortet werde. Und Goering wird bei einer Fahrt durch schon schwer getroffene Stadtteile mit dem Hitler-Gruß empfangen. Am Ende sind nur noch Trümmer zu sehen, Leichen auf den Straßen und Frauen, die beginnen, die Schuttberge abzutragen.
»Luftkrieg«, dieser etwas andere Katastrophenfilm, ist mit großer Sorgfalt produziert worden. Die Vorkriegsbilder aus den 1930er Jahren sehen aus, als wäre das Filmmaterial gestern aufgenommen worden. Behutsam sind den Stummfilmteilen ganz leise Töne unterlegt. Die Musik des Cello Octets Amsterdam, die Christian Verbeek komponiert hat, unterstreicht die schwer erträglichen Zerstörumgsbilder.
Loznitsa lässt den zeitlichen Ablauf der Bombardierungen in England und in Deutschland im Ungewissen. Seine Begründung lautet: »In dem Moment, in dem wir eine ›chronologische‹ Methode anwenden und aufzeigen, wer als erster bombadiert hat und wer als zweiter oder dritter, kommt das Konzept ›nach bedeutet wegen‹ ins Spiel und der Sinn geht verloren.«
Der in der Sowjetunion aufgewachsene Regisseur mit abgeschlossenem Mathematik-Studium steht allen Ideologien ablehnend gegenüber. Für ihn steht fest, dass technische Neuerungen alsbald von den Menschen auch zerstörerisch eingesetzt werden. Sich gegen dieses Naturgesetz, gegen den »Fluss des Bösen« zu wehren, sieht er als eine Menschheits-Aufgabe an. Und angesichts der aktuellen politischen Lage in Europa kann sein Film, der schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 entstanden ist, nur allen politischen Entscheidungsträgern dringend empfohlen werden. Und nicht nur ihnen.

Claus Wecker / Foto: © Progress Filmverleih
LUFTKRIEG – DIE NATURGESCHICHTE DER ZERSTÖRUNG (The Natural History of Destruction)
von Sergey Loznitsa, D/NL/LT 2022, 109 Min.
nach dem Buch von Winfried Georg Sebald
Dokumentarfilm
Start: 16.03.2023

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