Michel Bergmanns späte Abrechnung mit seiner »Mame«

Die jüdische »Mame«, damit lassen sich Bücherregale füllen: Isaac Bashevis Singer, Philip Roth, Malamud und Bellow, aber auch die deutschen Juden wissen ihr Lied davon zu singen. Jüngstes Beispiel Michel Bergmann, der in Riehen, in der Schweiz, geboren, in Frankfurt aufgewachsen ist, in Frankreich lebte und jetzt Berliner geworden ist. Er rechnet, und zwar gründlich, mit seiner Mutter ab. Er steht also am Ende einer langen Tradition. Und er steht gut da.

Die Frau ist unerträglich. Aber, ehrlich, das liest sich gut.
Michel Bergmann ist sich sicher, die Mutter liebte ihn, aber es war »eine toxische Liebe. Und die Ursache für dieses Buch«. Charlotte Meinstein, 1916 in Zirndorf in Mittelfranken geboren, ist ein fröhliches, intelligentes Mädchen, die schon früh weiß, dass sie Kinderärztin werden möchte. Doch das Mädchengymnasium wird nach der Machtergreifung 1933, kurz vor ihrem Abitur, geschlossen. 1942 kommt sie in ein französisches Internierungslager, in dem auch Hannah Ahrendt und Marta Feuchtwanger waren. Mit großem Glück kann sie in die Schweiz flüchten. Aus der jungen Frau, einstmals »ein Siegertyp« wird eine, »die nicht mehr Herrin über ihr Schicksal ist«. In der Schweiz trifft sie den zwanzig Jahre älteren Emanuel, Lotte und er heiraten. Michel, 1945 geboren, klein und schwächlich, lassen die Eltern mit drei Monaten in der Obhut von Nonnen in einem Diakonissenheim. Sie wollen in Paris ein neues Leben beginnen. Als sie Michel nach gut einem Jahr wieder abholen, ist er, wie die Mutter sagt, »ein rausgefressener Schweizer Kloßkopf«. Der kleine Michel geht nur widerwillig zu diesen »zwei fremden Menschen«. Michel ist vier, als die Eltern nach Frankfurt ziehen, der Heimat des Vaters. Hier habe Juden einen »kommerziellen Vorsprung«, sie dürfen das »Wäschegeschäft Bergmann« sofort wieder eröffnen. David, Emanuels Bruder, wird Kompagnon. Die Bergmanns verdienen viel Geld, sie können sich eine schöne Wohnung leisten, sind wer in der jüdischen Gemeinde, aber die Mutter ist unglücklich. Als Michel elf ist, stirbt der Vater, die vierzigjährige Mutter muss das Geschäft übernehmen. Sie ist die »perfekte Geschäftsfrau, ohne, dass sie das vorher wusste. Sie kann verhandeln, kann Nein sagen, hat die Finanzen im Griff. Und sie hat keine Angst, sich unbeliebt zu machen … Sie haben mich lang genug getreten, jetzt trete ich!« Für ihre Kaltschnäuzigkeit und ihr Durchsetzungsvermögen bewundert Michel sie durchaus, nennt sie aber bald wieder »emotionslos« und »besitzergreifend«, wenn sie ihm vorwirft, »du bist zu klein, zu pummelig, zu unsportlich, zu unauffällig«. Als Lotte den ungarisch-stämmigen Amerikaner Adam kennenlernt wird sie, kurzzeitig, »eine andere Frau«. Sie scheint ihn wirklich zu lieben. Um »Dinge zu regeln«, muss er noch einmal in die USA, sie leiht ihm dafür 20.000 Mark. Beides, ihn und das Geld, sieht sie nie wieder. Sie benutzt ihren Sohn »als Überlaufbecken ihrer Seelenzustände«. Da kann sich Bergmann abstrampeln, wie er will, sie bleibt »eine alte, frustrierte Frau, die mich für ihr unglückliches Leben verantwortlich macht«. Er fragt sich allerdings, ob ihr Leben ohne die Nazi-Herrschaft nicht »ein gutes Leben gewesen wäre«? Diese Frage lässt sich nicht beantworten. Sicher bleibt nur, dass sie ein Ekelpaket war. Michel Bergmann hat erbarmungslos, dabei immer wieder faszinierend zu lesen, mit seiner Mutter abgerechnet. Am Ende packt ihn das schlechte Gewissen. Er sucht Entschuldigungen in ihrer Lebensgeschichte, die er vorher schon erzählt hat.
Wer will schon so eine Mutter gehabt haben? Im Epilog folgt eine Liebeserklärung. Solche Widersprüche bringen Spannung in die Geschichte.

Sigrid Lüdke-Haertel
Michel Bergmann: »Mameleben oder das gestohlene Glück«
Diogenes Verlag, Zürich 2023, 256 S., 25 €

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