Es ist schon bemerkenswert, dass eine der großen Vertreterinnen des abstrakten Expressionismus, der in den 1950er Jahren in den USA die künstlerische Avantgarde formulierte, so etwas wie ein Erweckungserlebnis in der mit steinzeitlichen Malereien bedeckten Höhle im nordspanischen Altamira hatte – obwohl, nein, eigentlich ist es logisch. Für die junge Helen Frankenthaler zeigte sich bei einem Höhlenbesuch ganz unverstellt, wie man Farbflächen und Striche so auf einen unebenen Untergrund setzen konnte, dass ein plastisches Raumgefühl entstand. Geschehen vor rund 35.000 Jahren. Dies wollte sie auch können: Farbe so einzusetzen, dass Räume sich vor den Augen bilden. Eine weitere Inspirationsquelle entstand durch Beobachtung: Als Kind liebte sie es zu sehen, wie sich Tropfen farbigen Nagellacks in einem mit klarem Wasser gefüllten Becken verhielten – und je länger man ihre jetzt im Museum Ernst ausgestellten Werke betrachtet, desto nachdrücklicher teilen sich diese Inspirationsquellen auch mit. Aber natürlich noch viel viel mehr – sie ist eine unerschrockene und unermüdliche Bilder-Finderin gewesen. Ihr stets zur Seite: die Farbe.
Im Jahr 1951 betrat die junge Helen Frankenthaler (1928–2011) gleich mit dem ihr eigenen Aplomb die New Yorker Kunstszene. Aufgefordert, in einer der jungen Kunst zugewandten Galerie in Manhattan ein Bild zu präsentieren, schleppte sie ein zwei Meter breites Gemälde an, obwohl aufgrund des beschränkten Raums nur Kleinformatiges erbeten war. Da war sie nun – und sie blieb. Dass sie mit ihrer Ungezwungenheit und Entdeckungslust bald selbst zur Inspiration abseits von Moden wurde, ja selbst Kunstrichtungen ins Leben rief, ist eigentlich nur eine logische Fortsetzung dieses ersten Auftritts. Bei dem raumgreifenden Format blieb sie übrigens, nur wenige Werke sind kleiner.
Im Museum Reinhard Ernst sind ihr nun vier Räume gewidmet, die jeweils unter einem ihrer grundsätzlichen Motti stehen und lose chronologisch geordnet sind. Sämtliche Werke entstammen dem hauseigenen Fundus – der begeisterte Reinhard Ernst fing schon früh an, Helen Frankenthaler zu sammeln. Ihr 1959 entstandenes »Beach House« (das man später noch einmal in einer Schwarz-Weiß-Fotografie sehen wird) ist bereits von einem beträchtlichen Format und eines der wenigen, das auf ein vorgefertigtes Stück Leinwand gemalt ist – dem Querformat fehlt schlicht die linke Ecke zum Rechteck. Es spielt stark mit zarten und kräftigen Linien, Farbflächen und einem noch gegenständlichen Touch, der sich in der weiteren Entwicklung immer stärker aus ihren Bildern zurückzieht. Sie experimentiert mit Farbe und Flächen und ist die erste, die unbehandelte Leinwände benutzt – die durchaus mit ihrer eigenen Struktur zum Farbbild beitragen – sie auf dem Boden ausbreitet und dann »die Farbe dorthin gehen lässt, wohin sie gehen will«. Ihre Methodik ist die des Soak-Stain – sie lässt verdünnte Farbe auf naturbelassene Leinwände sickern und bearbeitet sie dann mit Schwämmen und Bürsten. Es ist also nicht das gewollte »Dripping« des Jackson Pollock, ihres berühmten Zeitgenossen. Es bedeutet auch die Rücknahme ihres eigenen Malerinnen-Ich. Die Farbe an sich versteht sie als Komplizin im Malprozess und lässt sie eimerweise auf die Leinwände fließen. »Move and make« nennt sie diese Form ihrer Arbeit. Und so wie der Farbstrom dann geflossen und eingesetzt ist, bestimmt er den Bildausschnitt, und nicht umgekehrt.
Eigentlich lautet die Herausforderung, und das illustriert ihre persönliche Kunstphilosophie am treffendsten: wie malt man ohne Regeln? Wie nimmt die Farbe selbst einen Raum ein, wie setzt man Linien? Welcher Farbauftrag erzielt welche Bildwirkung? Explizit deutlich wird das an dem im Jahr 1977 entstandenen »Fenice«, das einen förmlich in das Bild hineinzieht, indem es mehrere gestaffelte Raumabstufungen evoziert. Auf anderen Gemälden fehlt buchstäblich ein Zentrum (»Spanning«, 1971) oder es ist verrutscht (»Pyramid«, 1988).
Dieses permanente Infragestellen von herkömmlichen Methoden, Motiven, Perspektiven, das Ineinanderfließen von Farbräumen und Flächen markiert einen ganz bestimmten Neu-Anfang innerhalb des Abstrakten Expressionismus: Action Painting und Farbfeldmalerei – in beidem war Helen Frankenthaler stilbildend zuhause. Titel vergeben mochte sie übrigens nicht besonders. Und so lädt der Rundgang durch diese berückende, schwelgerische Ausstellung dazu ein, sich quasi anti-autoritär seinen ganz eigenen Empfindungen hinzugeben.
Move and make – Helen Frankenthaler im Museum Reinhard Ernst in Wiesbaden
