Siri Hustvedt und Paul Auster, wohl das bekannteste Schriftstellerpaar der Gegenwart, lebt in Brooklyn, New York. Mit der »New York Trilogie« hat Auster dann auch seinen Ruhm begründet. In diesem Jahr wird er siebenundsiebzig. Doch, wie seine Frau mitteilte, ist er krank. Krebs. Davon scheint in seinem neuesten Roman, der im Original ebenfalls erst letztes Jahr erschienen ist, nur wenig durch, obwohl der Held des Buches, Baumgartner, zeitweise in die Rolle des Autors wechselt. Das heißt: die autobiographischen Bezüge sind ersichtlich. Und erwünscht.
Es beginnt mit einem dieser Tage, an denen alles schief läuft. Seymour T. Baumgartner, siebzig Jahre alt, emeritierter Professor in Princeton, verbrennt sich erst seine Hand an einem vergessenen, völlig überhitzten Topf auf dem Herd, dann ruft die Tochter seiner Putzfrau an und erzählt ihm, dass sich ihr Vater zwei Finger abgeschnitten hat und anschließend stürzt er noch die marode Kellertreppe hinunter. Um sein schmerzendes Knie zu schonen, setzt er sich in einen Sessel und seine Gedanken wandern »langsam von den Slapstick-Pannen des Morgens in die Vergangenheit, die am Außenrand seiner Erinnerung flimmert«. Den Topf hatte er vor fünfzig Jahren in einem Geschäft gekauft, in dem er auch seine spätere Frau Anna kennengelernt hatte. Mit Anna begann sein »einzig wahres Leben«. Es endete vor zehn Jahren, als sie beim Schwimmen in einer »Monsterwelle« ums Leben kam. Baumgartner leidet auch noch nach zehn Jahren unter dem Verlust. »Sie fehlt mir, das ist alles. Sie war die Einzige auf der Welt, die ich jemals geliebt habe und jetzt muss ich herausfinden, wie ich ohne sie weiterleben kann.« Anna war Übersetzerin und hatte auch viele eigene, unveröffentlichte Gedichte hinterlassen. Als er nach etlichen Jahren den Mut hat, ihr Zimmer zu betreten und die Gedichte zu lesen, »hatte er das Gefühl, Annas Stimme steige aus dem Papier, sie spreche leibhaftig zu ihm«.
Durch seine vielen intensiven Träume und Tagträume, steigt zunehmend wieder sein Lebensmut. Er fühlt sich durch sie nicht mehr »in einer fensterlosen, unterirdischen Kammer gefangen«. Er fängt sogar eine Beziehung an mit Judith, einer langjährigen gemeinsamen Freundin. Sie verlässt ihn gerade dann, als er sich dazu entschlossen hatte, sie zu heiraten. In seinen Alltag schieben sich auch immer wieder Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in Newark. Seine Eltern rackerten sich vierzig Jahre ab für ein schlecht gehendes Bekleidungsgeschäft. Als Seymour ein Stipendium bekommt, tranken Sohn und Vater zusammen ein paar Sliwowitz, rauchten eine Zigarette und schwiegen. »Das Schweigen war das Lob des Vaters.« In einer Passage im Roman beschreibt Paul Auster wie er 2018 auf der Suche nach Spuren seines Großvaters in die Ukraine reist, der von dort in die USA ausgewandert war. Austers Roman setzt sich zusammen aus vielen Ereignissen, die sowohl gerade erst geschehen sind (in der Jetzt-Zeit stattfinden) und ebenso Begebenheiten, die schon lange zurückliegen. Auch aus Annas Nachlass hat er autobiographische Texte eingearbeitet, die Annas Sichtweise ihrer Beziehung erkennen lassen.
Auster verfügt über die außergewöhnliche Fähigkeit, seine Sprache gleichsam vibrieren zu lassen. Seine Sätze, dicht gebaut, prall gefüllt mit Wirklichkeit, bannen den Leser in Baumgartners Welt.
In Austers Buch geht es um Liebe, Trauer. Vor allem aber geht es darum, wie man mit dem Verlust eines geliebten Menschen weiter leben kann. Dabei ist es ihm nicht wichtig, ob das Erinnerte sich wirklich so zugetragen hat. Ob eine Geschichte »eine Legende, eine Prahlerei oder ein bodenloses Gerücht ist«, ist gleichgültig, sie hat ihren Sinn erfüllt, wenn sie »zu einem neuen und tieferen Verständnis der Welt«, und das heißt vor allem des gegenwärtigen Lebens beiträgt. Am Ende, Baumgartner erwartet am nächsten Tag eine junge Studentin, die eine Arbeit über Annas Gedichte schreiben will, ist er mit dem Auto unterwegs. Auf einer Landstraße, etwas außerhalb von Princeton, läuft ein Reh vor sein Auto. Er versucht auszuweichen und kracht gegen einen Baum. Das Auto lässt sich nicht mehr bewegen. Mit einer Platzwunde an der Stirn und bei klirrender Kälte macht er sich auf den Weg, »um Hilfe zu suchen, und als er das erste Haus erreicht und an die Tür klopft, beginnt das letzte Kapitel der Saga von S. T. Baumgartner«.