Primaballerina mit Kind – »Becoming Giulia« von Laura Kaehr

Eine berufstätige Mutter ist schon lange kein besonderes Thema mehr. Anders verhält es sich, wenn die Mutter eine Balletttänzerin ist und obendrein noch erste Solotänzerin am Opernhaus Zürich. Die Italienerin Giulia Tonelli ist drei Monate nach der Geburt ihre Sohnes Jacopo aus dem Mutterschutz wieder auf die Ballettbühne zurückgekehrt. Sie wagt den Spagat zwischen Ballettstange und Kinderbetreuung.

Bei ihrer Ankunft im Probesaal des Zürcher Opernhauses wird sie von der Filmemacherin Laura Kaehr begleitet, die selbst eine Ballettvergangenheit hat und uns mit einer rastlosen Handkamera im Breitwandformat möglichst viel zeigen will. »Romeo und Julia« steht auf dem Programm, und sofort wird klar, dass harte Arbeit auf alle Tänzerinnen und Tänzer wartet. Denn die insgesamt drei Monate Pause samt der körperlichen Veränderungen machen Giulia die Wiederaufnahme ihres Berufs nicht leichter. Auch wenn ihr bestätigt wird, die Schwangerschaft habe man ihr kaum angesehen. Giulia versichert, dass Sohn Jacopo ihr neue Kraft gebe, und folgt man dem Geschehen, dann hat sie die auch bitter nötig.
Mit der Unruhe, die in ihr Leben eingezogen ist, bildet der Film ihren Alltag ab. Hausarbeit nebenbei, Gänge durch Zürich, die Zeit mit ihrem Sohn, die Organisation von dessen Betreuung, Absprachen mit ihrem Mann, einem österreichischen ETH-Ingenieur, der seltsam konturlos bleibt. Eheprobleme kommen in diesem, seine Protagonistin bewundernden Dokumentarfilm nicht vor.
Statt dessen heißt es im Gespräch mit Giulias Eltern, dass sie schon in frühen Jahren ballettverrückt gewesen sei. Als Achtjährige habe sie das Kinderballett von Kalabrien geführt. So scheint ihr Weg schon von klein auf vorgezeichnet. Vor allem der Mutter ist der Stolz über ihre Tochter ins sympathische Gesicht geschrieben.
Sie habe die Bühne sehr vermisst, sagt die Primaballerina. Das treibt sie auch an, wenn sie den strengen Anweisungen der männlichen Ballettmeister folgt. Jede, auch nur kleinste und für einen Laien kaum sichtbare Abweichung von den geforderten Bewegungen wird sofort korrigiert und führt zu einem neuen Versuch, bis alles genau den Vorstellungen des Meisters entspricht.
Da ist die Arbeit mit Cathy Marston ein Vergnügen. Die ehemalige Tänzerin, Mutter von zwei Kindern und Choreografin entwickelt zusammen mit Giulia ein Ballett zu Nathaniel Hawthornes Roman »The Scarlet Letter«, in dem es um eine verheiratete Frau geht, die von dem Pfarrer des Dorfes ein Kind bekommen hat und den Namen des Vaters beharrlich verschweigt.
Endlich kann Giulia die klassische Welt der jungen Mädchen verlassen und eine reife Frau tanzen, was ihren persönlichen Erfahrungen besser entspricht. Es entwickelt sich zwischen den beiden professionellen Frauen ein wohltuendes Zusammenspiel, das körperlich anspruchsvoll, aber mit weniger Drill verbunden ist. (Das Eingehen auf die persönlichen Stärken der Tänzerinnen und Tänzer erinnert an die Arbeitsweise von Pina Bausch.) Für Giulia, die nicht nur tanzen, sondern gerne auch als Choreografin arbeiten will, scheint es ein Glücksfall zu sein, dass Cathy Marson die Leitung der Zürcher Ballettkompanie übernehmen wird. So endet der Film mit einer erfreulichen Aussicht für sie.

Tom Zwicker / Foto: © W-Film
>>> TRAILER
BECOMING GIULIA
von Laura Kaehr, CH 2022, 103 Min.
Dokumentarfilm
Start: 18.01.2024

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