Mit »Systemsprenger« erzielte Regisseurin Nora Fingscheidt 2019 einen überraschenden Kritiker- und Kassenerfolg. In der Rolle einer rebellierenden Neunjährigen überzeugte damals Helena Zengel dermaßen, dass sie ein Engagement in Hollywood und dort für ihren Auftritt in einem Western sogar eine Golden-Globe-Nominierung bekam. Fingerscheidts neuer Film beschäftigt sich nun mit einer Studentin, die auch so ihre Anpassungsschwierigkeiten hat.
Für die Verfilmung von Amy Liptrots vielfach beachteter Autobiographie von 2020, mittlerweile ihre dritte Regiearbeit, deren Drehbuch Fingscheidt zusammen mit der Autorin verfasst hat, konnte die vierfach für einen Oscar nominierte Saoirse Ronan verpflichtet werden. Ronan spielt eine dem Alkohol verfallene junge Frau und legt einen ebenso beeindruckenden Auftritt hin wie die kleine Helena Zengel in »Systemsprenger«.
Ihre Rona ist auf den Orkney-Inseln aufgewachsen, zum Studium nach London gezogen, wo sie das lockere Studentenleben übertreibt – insbesondere was ihren Alkoholkonsum betrifft. Zum Feierabend wird Rona aus Pub oder Bar gewaltsam hinausgeworfen, und aggressiv enden auch die privaten Feiern mit ihren Freunden
Für Ronas Verhalten bietet der Film zwei Erklärungen an. Da ist zum einen die Sage, die man sich auf Orkney erzählt: Menschen, die im Meer ertrinken, werden zu Seehunden. Wenn die Flut am höchsten steht, streifen sie nachts ihre Seehundhaut ab und gehen als wunderschöne Menschen an Land. Sie tanzen zwar nackt miteinander, werden aber an Land nicht glücklich. Vielleicht ist Rona eine von ihnen.
Die zweite Erklärung ist die psychische Erkrankung ihres Vaters Andrew (Stephen Dillane), eines Schafzüchters, bei dem sich euphorische mit depressiven Phasen abwechseln. Er lebt getrennt von Ronas Mutter Annie (Saskia Reeves), die im Christentum einen Anker gefunden hat. Während sie sich für ihren Mann nicht mehr verantwortlich fühlt, versucht sie, ihrer Tochter Halt zu geben, stößt aber auf pubertäre Ablehnung. Besonders, als sie ankündigt, sie werde für Rona beten.
Andererseits besucht Rona verschiedene Treffen der Anonymen Alkoholiker, die ja zusammen auch ein Gebet sprechen: »Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, und den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. (Eine Lebensmotto, das auch Nicht-Alkoholikern dienen kann.)
Rona ist jedenfalls eine Überforderung für ihren Geliebten Daynin (Paapa Essiedu), der sie schließlich verlässt. Für eine Wende in ihrem Leben muss erst ein Tiefpunkt kommen. Und die Wende führt zu ihren Anfängen: die Schafe ihres Vaters, die raue schottische Landschaft und das tosende Meer sowie die Rettung der Wachtelkönige vor dem Aussterben als Voraussetzung für ihre Gesundung.
Chronologisch erzählt, wäre der Film vermutlich einer von den vielen wohlmeinenden Problemfilmen geworden. Doch das ist Fingscheidts Sache nicht. Sie schneidet mit viel filmischen Gefühl zwischen den Aufnahmen aus der Kindheit, aus London und aus der Rückkehr nach Orkney hin und her und verdeutlicht so die innere Zerrissenheit ihrer Heldin. Dazu gehört auch eine aufdringliche Handkamera (Yunus Roy Imer), die dem Film einen dokumentarischen Touch verleiht.
Und doch bleibt »The Outrun« an der Oberfläche. Alkoholismus ist eben ein vielschichtiges Problem, im Grunde ein Thema für die erzählende Literatur, die das Innenleben der Figuren darstellen kann. Als filmische Annäherung ist »The Outrun« aber auf jeden Fall interessant.