Rundum spannende Lektüre in der Anthologie »Arbeit«

Für dieses Buch müsste es Preise regnen (Hallo, Ihr Stiftungen nahe der Arbeitswelt!), das aber nun wirklich nicht, weil ich darin Beiträger bin. Welch eine Anthologie, welch ein großes – sinnstiftendes – Vergnügen. Klappenbroschur, leichtes Überformat, lesefreundlicher Satzspiegel, schöne Gestaltung, wunderbare Illustration, da hat sich jemand wirklich Arbeit gemacht: 420 Seiten beste Buchqualität, und der Preis dafür echt schlank. (Im Paket mit »Das lesbische Auge 22« mit Bildwelten aus der queeren Berufswelt noch günstiger, siehe unten.)

Die Tübinger Verlegerin Claudia Gehrke und die Autorin Regina Nössler haben die Kunst der Anthologie zur Meisterschaft entwickelt. Die eine, quirlige und mutige Verlegerin (nicht nur) erotischer Literatur, behauptet seit 1978 ihren Konkursbuchverlag als eine zuverlässig feste Größe im deutschen Literaturbetrieb. »Ich habe einen Körper« war einer der ersten Auftritte betitelt, seit 1985 erscheint das Erotik-Jahrbuch »Mein heimliches Auge« (mittlerweile bei Band 37 angelangt), längst ergänzt von »Mein lesbisches Auge« und »Mein schwules Auge«.
Regina Nösslers schriftstellerisches Metier ist der Alltag, sind die Paradoxien sozialer Realität. Ihre präzisen Thriller, einer der letzten war »Die Putzhilfe«, werden mittlerweile auch in den Feuilletons wahrgenommen. Bereits im Februar 2014 schrieb ich hier im »strandgut«: »Der Roman ›Auf engstem Raum‹ spielte in einem Berliner Schreibwarenladen alter Schule, verstaubt in mehrerlei Hinsicht und langsam dem Untergang entgegen schlingernd. Ein Kabinettstück der Thrillerliteratur. ›Wanderurlaub‹ ist nun Nösslers 13. Buch. Verdient hätte sie, dass es ihr richtig Glück bringt. Meine Ver- und Bewunderung wuchs mit jeder Seite der Lektüre. Patricia Highsmith hat eine deutsche Erbin gefunden. ›Wanderurlaub‹ ist ein Thriller des alltäglichen Schreckens, der kleinen Abgründe des menschlichen Beisammenseins, der kleinen, bösen und doch so wahren Beobachtungen. Das alles erzählt in einer schlüssigen, sich logisch vorwärts entwickelnden Handlung – eben aus einer Alltagssituation heraus.«

Nun also das Alltagsthema Arbeit. Die Konkursbuch-Themenreihe verblüfft wieder und wieder mit Goldschürferei, siehe etwa das Konkursbuch 56 zum Thema »Tod«, zu »Bücher« (Nr. 55) oder »der, die, das Fremde« (Nr. 57). Band 58: »Arbeit« versammelt 46 Autorinnen und Autoren quer durch die Arbeitsleben und die Arbeitswelt. Köstlich, was zum Beispiel Thomas Wörtche so alles aus dem »Wortfeld Arbeit« siebt. Faszinierend, wie Suhrkamp-Autor Johannes Groschupf sich die Staatsbibliothek Potsdamer Straße als Platz für sein Schreiben zu eigen macht. Wir erfahren aus dem Arbeitsalltag einer Ärztin ebenso wie von dem einer Straßenmusikerin, von »Büroathleten«, von Niedriglohn und Kinderarbeit oder von BEM-Gesprächen, vom Schriftstellerinnen-Alltag, von der Arbeit mit Helmut Heißenbüttel, der Vorbereitung einer Chorprobe, dem Kreislauf Arbeitsamt-Berufsberater-Mindestlohn, vom Deutschlehrer-Sein in Kyoto oder unverschämten Kunden auf einem Büchermarkt in La Palma.
Einer meiner Lieblingstexte stammt von Silke Andrea Schuemmer, die alle vier Wochen ins Nagelstudio »Paradise« in einer Einkaufspassage geht. Sie nimmt sich Zeit zum genauen Hinschauen, registriert zum Beispiel bei ihrer Gegenüber ein blasses Tattoo mit dem Schriftzug HOPE. Kundinnen und Mitarbeiterinnen duzen sich, aber es ist ein unterschiedliches Du. Die einen sagen es, weil sie die Sie-Form nicht kennen. Das Du der Kundinnen ist das herablassende Personal-Du. Die Verständigung ist rudimentär. Was klingt wie »Mussu au?« bedeutet: »Möchten Sie auch ein Muster auf die Nägel?« – »Fü au?« bedeutet »Möchten Sie eine Pediküre?«. Und »Tuda weh?« meint: »Habe ich Sie verletzt?«. An anderer Stelle lernen wir, dass zum Beispiel im Freitag schon lange kein Wortsinn mehr mitschwingt, an anderer, dass beim DGB in einem Schwarzbuch zur »Rente mit 70« selbst 50 eigens recherchierte Porträts aus der Arbeitswelt (166 Druckseiten und 95 Prozent des Buches) nicht dafür reichen, dass deren Autor auf dem Buchtitel steht, jedoch sieben Seiten gemeinsames Vorwort genügen, damit gleich drei Herausgeber den Band für sich reklamieren können. Mir passiert, 2017, im DGB-Bundesvorstand und im Christian Links Verlag. Ebenfalls von mir: eine Reminiszenz an Kinderarbeit auf dem Bauernhof und an den Moment, wo man nach der Arbeit in die Küche trat: »Das Glück beim Händewaschen.«
Die Anthologie-Kapitel heißen Generationen/Verhasste Jobs und schlecht behandelt/Harte Jobs/Arbeitsbiographien/Ende der Arbeit?/Nicht mehr arbeiten können/Kunst, Kultur, Schreiben (mit Geld, wenig Geld, ohne Geld)/Faulheit und Arbeitssucht. Auch der KZ-Spruch »Arbeit macht frei« findet Beachtung und MENGELE wird ladewagengroß durchs Allgäu gefahren. Die von Claudia Gehrke geführten Interviews sind hoch spannend und instruktiv, etwa mit einer Ärztin, einer Care-Arbeiterin oder mit dem Schriftsteller Thorsten Nagelschmidt, dessen Verlag den Romantitel-Vorschlag »Arbeit« erst eher für geschäftsschädigend hielt (Fischer Verlag, 2020).
Ein Frontispiz schlüsselt ARBEIT so auf: anschaffen gehen, akquirieren, agieren, Anschub geben, abreißen, ackern, abrackern, anfertigen/ranklotzen, reinhauen, regieren, raten, richten, reden, riskieren/bewirtschaften, bedienen, begleiten, bewerten, bekleiden, beerdigen, bewahren, bauen, bilden/Effizienz steigern, Essen zubereiten, Empathie anbieten, Empfehlungen aussprechen, Existenz sichern/initiativ sein, international unterwegs, interkulturell aufgestellt, interdisziplinär forschen, informieren/Tagwerk verrichten, terrorisieren, tätig sein, Täter verurteilen, tanzen, Team führen, therapieren, tüfteln.
Arbeit – nicht zwangsläufig gleichzusetzen mit Beruf – kann erfüllend, manchmal sogar beglückend oder Berufung sein, aber auch Mühsal und Abrackern bedeuten. Etwa wenn man nicht gut behandelt wird. Arbeit hat allermeist auch eine soziale Komponente. Es gibt Kollegen und Kolleginnen, Chefs und Chefinnen, es sei dann, man ist selbstständig, was wieder andere Abhängigkeiten zeitigt.
Arbeit ist immer mehr wert als der Preis, den man für sie zahlt. Das Geld verschwindet, die Arbeit aber bleibt. Wissen um Qualität und Wertschätzung guter Arbeit, das ist nicht nur ein Thema historischer Betrachtungen. Es betrifft und trifft uns Konsumenten jeden Tag, bei jeder Kaufentscheidung oder Verfügung über unsere Zeit – die, so ungern wir das wissen wollen, auch eine Ein- und Auskommens-Entscheidung für Produzenten, Händler und Verkäufer, für Manufaktur oder industrielle Produktion ist. Für Reparaturen am heiligen Auto bezahlt man bei uns eher solide Arbeitslöhne als für sonstige Dienstleistungen oder Herstellungskosten. Jeder fünfte Job in Deutschland liegt im Niedriglohnsektor, in den neuen Bundesländern ist es jeder dritte. Nur fünf andere europäische Länder haben einen noch größeren Niedriglohnsektor, wir liegen hier zwischen Rumänien und Bulgarien. Portugal, Italien, Ungarn, Tschechien, Kroatien oder Slowenien zahlen besser.
Arbeit kostet einfach zu viel und ist uns zu wenig wert – zumindest, wenn es nicht die eigene ist. Immer wieder gefreut habe ich mich in dem Buch über die intelligenten und ansprechenden Bildstrecken (viele von Anja Müller), über die Offenheit der hier Schreibenden, über all die Anregung. Dieses Buch verdient alle Wertschätzung. Und Sie als Leser*in dürfen nun gerne innehalten und einen Moment bedenken, wie viel Arbeit in einer »Strandgut«-Ausgabe steckt.

Alf Mayer
  • Claudia Gehrke, Regina Nössler (Hg.): Konkursbuch 58. Arbeit. Mitarbeit Sigrun Casper. Essays, Sachtexte, Geschichten, Berichte aus dem Leben, Gedichte, Interviews und viele Bilder. konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Tübingen 2023. Klappenbroschur, 420 S., 16,80 €.
  • Laura Méritt (Hg.): Mein lesbische Auge 22. Redaktion und Lektorat: Regina Nössler. 208 S., viele farbige Bilder, 16,80 €. – Beide zusammen als »Arbeitspaket«: Gesamt 628 S., 25 €.

www.konkursbuchverlag.de

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