Schauspiel Frankfurt: Jan Bosse bringt Tschechows »Onkel Wanja« mit Anlauf in Fahrt

Gegen Schluss, als der emeritierte Professor mit seiner jungen Frau Elena fluchtartig den Aufenthalt am Gutshof der Familie abbricht, um in die Stadt zurückzukehren, sagt der Arzt Astrow zu dieser: »Merkwürdig, Sie tauchen hier auf und alle müssen ihren Kram hinschmeißen. Ihre Anwesenheit scheint zu reichen, und alles verkommt. Fahren Sie. Finita la Comedia«. In diese kargen Worte scheint die gesamte zweistündige Vorstellung von Anton Tschechows »Onkel Wanja« komprimiert, mit der das Schauspiel Frankfurt in der Regie von Jan Bosse die neue Spielzeit eröffnet hat.
Nichts da mit: Vorhang hoch! Wir erblicken schon beim Platznehmen ein marodes Haus auf der bald rotierenden Drehbühne. Plastikbahnen, Streben und Leitern lassen uns rätseln, ob die verrottete Baustelle eine aktuelle Anspielung ist. Eine Metapher für das Wanja-Personal, das den Block rundum bespielen wird, aber ist sie allemal. Das kann ja heiter werden, witzelt mein Freund Markus, und staunt dann mit allen, dass es tatsächlich so kommt. Auch Astrows Anleihe aus der Oper »Der Bajazzo« ist dem Regisseur Programm. Tschechow selbst wollte seine Stücke stets als Komödien verstanden wissen.
Und so nimmt die im Eklat endende Landvisite der Serebrjakows (Peter Schröder/Melanie Straub) erstmal ziemlich clowneske Züge an. Das fängt mit dem Arzt und Öko Astrow (Wolfram Koch) an, der in abgeschabter Lederjacke auf einem Fahrrad einfährt und dabei mit trötender Tröte im Mund ein Motorrad mimt – der Running Gag des Abends. Und es hört mit den so poppig wie hippen Outfits der beiden Stadtneurotiker noch lange nicht auf, wobei man die Zahl der Garderobenwechsel der gertenschlanken Elena nur schätzen kann (Kostüme: Kathrin Plath). Professors Tochter aus erster Ehe mit Wanjas Schwester, das Landei Sonja (Lotte Schubert), kommt wie von der Kerwe im gelben Blümchenkleid, Wanjas Maman (Christina Geiße) in Rot auf Pumps, der Ex-Gutsverwalter Telegin (Torsten Flassig) im kniefreien Rock für schnelle Lacher und Heiko Raulins Wanja, der aktuelle Bewirtschafter des Guts, in Jeans, Hosenträger und gebauschtem Hemd wie von der Bonanza-Farm. Dass er sich anfangs wie im Jens-Harzer-Ähnlichkeitswettbewerb anhört, mag dem norddeutschen Idiom geschuldet sein. Fehlen noch die gently sweepende E-Gitarre der herumtigernden Musikerin Carolina Bigge und die aufbrandenden Tanz- und Gesangseinlagen (»Ganz egal, ganz egal«) aller. Heiter die Stimmung, immer düstererer aber das Licht, folgt das Spiel der gestrafften Textvorlage. Und deshalb holt sie uns doch noch ein, die verzweifelte Sinnsuche und Ohnmacht der dem Leben ausgelieferten Tschechow‘schen Menschen.
In das Zentrum seiner Adaption hat Jan Bosse den Arzt als Umweltaktivist platziert. Das Verblüffende daran: Von wenigen Begriffen wie Klimawandel abgesehen, stehen all seine düsteren Prophetien und Ansichten über ökologisches Wirtschaften schon seit 120 Jahren im Text. Wolfram Koch hat in diesem Part des um die Vergeblichkeit seiner Mühen wissenden Kämpfers seine stärksten Szenen, auch wenn er die einzige Person, die ihm folgt, dabei übersieht: Sonja. Ja, auch die vergebliche Liebe als das große Substitut der Sinnsuche, hat ihren gewichtigen Platz auf der Frankfurter Bühne, wiewohl man schon tief auf dem Land wohnen muss, um Straubs glucksendes It-Girl zu vergöttern. Die einsichtige Seite der tscheschow’schen Elena nehmen wir der von Bosse nur ungern ab. Er hat sie uns als Hülsenfrüchtchen aufgetischt.
Einmal mehr großartig agiert Peter Schröder, der sich als kränkelnder Intellektueller unter Decken im Rohbau nicht mehr einkriegt vor Selbstmitleid, und kurz darauf grandios arrogant mit seinem Plan, das Gut zu verkaufen und den Erlös in Aktien anzulegen, den Schwager ausrasten und zur Pistole greifen lässt. Da ist uns aber auch längst Raulins Wanja schon nah, der mit harter Arbeit seit vielen Jahren das aufwändige Leben des bewunderten Manns seiner verstorbenen Schwester finanziert.
Wir sind hier schon tief in der zweiten großartigen Hälfte der zweistündigen Aufführung, die Tschechow wieder auf Normaltemperatur und das Ensemble zu großem Spiel finden lässt, als hätte es den Anlauf über die Straße der Komik gebraucht. Die unerwidert liebende Sonja ist endlich ganz die Lichtgestalt des Stückes geworden und haucht ihren Schmerz mit der Joy-Division-Hymne »Love Will Tear Us Apart« ins Publikum. Etwas nach »Guantanamera« klingt der Song inzwischen aber schon.
Ganz zum Schluss aber siegt die Poesie über den Verismo des Lebens. Es rieselt unentwegt Schnee von der Decke, und die auf dem Land Verbliebenen ziehen im ausladenden Schlittschuhfahrerstil lächelnd und irgendwie zufrieden wirkend ihre Bahnen. Am Ende sitzen nur noch Sonja und Wanja vor dem nach hinten verschwindenden Haus und denken sich wenigstens das Jenseits schön. Alles andere: Schnee drüber. Ein schöner Theaterabend und ein vielversprechender Saisonbeginn.

Winnie Geipert / Foto: © Thomas Aurin

Termine:
6., 7., 14., 31. Oktober, 19.30 Uhr
www.schauspielfrankfurt.de

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