Staatstheater Darmstadt führt den Salzburgklassiker »Jedermann« ins 21. Jahrhundert

In Salzburg zumindest war der seit 1920 jährlich vor dem Dom gespielte, im mittelalterlichen Mysterienspiel gründende und erzkatholische »Jedermann« lange Zeit sakrosankt. Erst 2011, nach über achtzig Jahren, durfte er »modernisiert« werden, von Christian Stückl, übertragen ins Regietheaterzeitalter. Mit der als »Meta-Mysterienspiel« deklarierten »Jedermann«-Bearbeitung des Regisseurs Kieran Joel – Untertitel: »Jedermann ist niemand und niemand ist Jedermann« – dreht das Darmstädter Staatstheater die Schraube eine Windung weiter.
Gleich in den ersten Sekunden Heiterkeit bei der Premiere. Auftritt Gott, mit langem silbergrauem Rauschebart. Den Leuten, jammert er, sei er doch längst scheißegal, er werde nur noch lächerlich gemacht. Natürlich existiere er bloß in Gedanken, das heiße aber doch nicht, dass es ihn nicht gebe. Am Ende eines längeren Sermons erinnert er sich daran, dass er doch schließlich der Allmächtige sei – mithin komme es ihm auch zu, zu entscheiden, dass seine Rolle heute gestrichen wird.
In dieser humorigen Art soll es weitergehen. Der knapp zweistündige Abend steckt voller Verspieltheiten. Eigentlich ist er eine einzige Verspieltheit. Jedermann wischt am Anfang etliche Male eine Rutschbahn herunter; die Ausstatterin Barbara Lenartz hat die Bühne des Weiteren mit einem elektrischen Schaukel-Elefanten und einem mit roten Bällen gefülltem Planschbassin möbliert: Jedermann im Spielzeugland. Die Buhlschaft taucht in Person erst ganz am Ende auf. Bis dahin lief Jedermanns – also eigentlich des Theatermachers – Flirt mit ihr via Chat im Internet. Sie plädiert auf die individuelle Freiheit, er leidet an seinen Privilegien.
Der dreifache Jedermann – Naffie Janha, Sebastian Schulze und Béla Milan Uhrlau, die anderen Rollen spielt das Trio nebenbei, die mythologischen Figuren mit Schwellköpfen – verzehrt sich an der Frage, wie er seinen Reichtum der Gesellschaft zunutze machen kann. Wie ernst er es damit meint und auch mit seiner Sorge um die Umwelt … Klimaschutz etwa wollen laut Umfrage ja (fast) alle, in der gelebten Wirklichkeit (fast) keiner.
Manche Idee in dieser possierlichen Diskurskomödie ist arg naheliegend, etwa dass der Mammon Abbas »Money Money Money«-Liedchen anstimmt. Doch Regie und Ensemble gelingt es, eine recht muntere Unterhaltsamkeit draus zu schlagen. »Ich sehe mich sehen«, hieß es bei Paul Valéry, und bei Kieran Joel spielen alle, wie sie sich beim Spielen sehen.
Wie den Reichtum der Gesellschaft zunutze machen – da wüsste man schon ein paar Dinge. Doch als ein Penner – oh, pardon, verbessert sich Jedermann, schließlich sind wir ja alle woke: ein Obdachloser Geld von ihm will, bleibt er knauserig. Würd‘ dem ja letztlich nichts nützen, vielmehr komme es drauf an, dass er lernt, auf eigenen Füßen zu stehen.
236,6 Milliarden Dollar Vermögen bei Bernard Arnault, mit einem gigantischen ökologischer Fußabdruck: dafür müsste ein Schauspieler mit seinen 36.000 Euro brutto im Jahr neun Millionen Jahre arbeiten. Die obszöne soziale Spaltung wird in einer TV-Show mit dem Mammon als Showmaster mittels Reissäckchen in ihrer Größenordnung verdeutlicht. Herrschaft im Sinne von Leibeigenschaft scheint ja überwunden, und wir können uns alle fühlen wie Individualisten – wobei die wahre Freiheit jedoch eine Frage des Geldes ist.
Einmal klingt an, dass auch das Theater ein CO2-Verpuster ist. Schön, dass wir darüber gelacht haben.

Stefan Michalzik / Foto: © Nils Heck
Termine: 9.Juli, 16 Uhr
www.staatstheater-darmstadt.de

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