Staatstheater Darmstadt zeigt Kristo Šagors fesselnde Dramatisierung von »1984«

Es war der Eindruck der Schreckensregime des Stalinismus wie des Nationalsozialismus, unter dem George Orwell im Jahr 1948 seinen Roman »1984« geschrieben hat. Nicht weniger jedoch, in der hiesigen Rezeption weitgehend vernachlässigt, ging es dem Briten um gleichmacherische Tendenzen in der Massenkultur der westlichen Demokratien. »Aktualisierende« Anspielungen baut die Theaterbearbeitung von Kristo Šagor, die der Regisseur Jörg Wesemüller, der »1984« nun am Darmstädter Staatstheater als Uraufführung inszeniert hat, einigermaßen dezent ein, wenngleich allerdings die Erwähnung des Wortes Klimawandel unmotiviert im Raum stehen bleibt.
Was den Umgang mit der sprachlichen Ebene anlangt, ist Jörg Wesemüllers Verfahren ein alteingeführtes: Er nimmt den Text als Sprechpartitur her. Ein mikrofoniertes Kollektiv in einem entindividualisierten Sportsschwarz, vier Schauspieler in den zentralen Rollen, ein 18-köpfiger Chor, choreografiert von Gianni Cuccaro, in der Mitte zwischen zeitgenössischem Tanztheater und der Show in Musikvideos oder bei pompösen Popkonzerten. Mitunter im gnadenlos zackig harschen Marschtakt, zu der je nach Szene unheildüsteren oder eben auch einpeitschenden technoid/industrialhaften Musik von Sergej Maingardt.
Früh schon stößt einem der merkwürdige Umgang mit dem Medium Video (gleichfalls Sergej Maingardt) auf. Angesichts einer Projektion auf die leicht abgeschrägte Spielfläche von Ausstatterin Jasna Bošnjak ist nicht recht zu erkennen, was sich da überhaupt abspielt. Irgendwie Wolken wohl, womöglich zeichnet sich darin das Gesicht des Großen Bruders ab. Später werden Porträtaufnahmen hineingeschnitten, wohl jedoch nicht von den Akteuren aus dem zentralen Quartett.
Die Entwicklung der Figuren ist, mitnichten zum Nachteil, beschränkt auf ein markantes Minimum, vergleichbar etwa der Darstellungsweise im Musical. Ein schnödes Illustrieren dessen, was im Text gesagt wird, vermeidet Jörg Wesemüller. Vom ersten Augenblick an sticht die weißgeschminkte Karin Klein hervor mit einer mephistophelisch zwielichtigen expressionistischen Darstellungsweise. Was trefflich passt auf ihre Figur, den O‘Brien, einen Kollegen des von Thorsten Loeb gespielten Protagonisten Winston Smith im Wahrheitsministerium. In O‘Brien vermeint Winston einen Genossen in seiner inneren Opposition wider die Allmacht des auf Gewalt und Gehirnwäschen aufgebauten Systems zu erkennen.
Auf eindreiviertel Stunden gedrängt geht es im Handlungskern durch Winstons verbotene, unausweichlich auf Folter und Tod zulaufende Liebesgeschichte mit der in ihrer Dissidenz mit ihm verbündeten Julia – bei der Premiere Mitte September die eingesprungene Mona Kloos. Sprechenderweise ist es ein Terrarium, das für den Ort steht, an dem das Paar sich in einer trügerischen Heimlichkeit treffen kann. In dem Observationsstaat kann ein Ausleben des seiner angeblich subversionsfördernden Wirkung wegen gegeißelten Sexus nicht lange verborgen bleiben.
Diverse Randfiguren, etwa Winstons Wohnungsnachbarin Frau Parsons durch Sebastian Schulze, werden mit Masken gespielt. Aus dem hohen Maß an Stilisierung schlägt die Regie ein beträchtliches Kapital. Eine ausgesprochen ansehnliche zeitgenössische, dabei nicht unbotmäßig auf eine modische Hipness getrimmte szenische Lesart dieses Stoffes, der zu Zeiten des Kalten Krieges in Westdeutschland propagandistisch-antikommunistisch motiviert als Schulbuchlektüre verordnet worden ist.

Stefan Michalzik / Foto: © Björn Hickmann
Termine: 15. Oktober, 15 Uhr; 17. Oktober, 11 Uhr; 28. Oktober, 19.30 Uhr
www.staatstheater-darmstadt.de

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