Wo sitzt er denn nun, der Nerv? So fragt man sich hinterher. Meint das beschriebene Reich des Schmerzes die Tyrannei, die den tumben Titelhelden der Inszenierung von Gustav Rueb nötigen will, einen blöden Hut von der Stange zu grüßen? Meint es die Schweiz, deren Bewohnern der Reichsvogt Gessler nachsagt, ihre Gedanken bewegten sich langsamer als ihre Gletscher? Ist es das trunkene Mannestum des eidgenössischen Bergvolkes, das die Emanze Berta von Bruneck nicht weniger martert als Wilhelm Tells mindestens androgynen Sohn Walther? Oder muss am Ende gar die völlig schräge Adaption des 220 Jahre alten Schiller-Werkes von Marcel Luxinger dafürhalten, der Kostümbildnerin Nina Kroschinske zu allem Überfluss noch einen Western-Look verpasst? Yeehaw auch wenn’s weh tut.
Wer konsequent auf Sinnsuche verzichtet, hat keine schlechten Karten für einen zwar drei Stunden (mit Pause) langen, aber hochvergnüglichen Abend im Darmstädter Kammerspiel. Eingestimmt von einer Alphornbläserin im Cowgirl-Look und einer wagnerhaft von Jodelhall umflorten Soundwolke aus der E-Dröhne, lässt vor der pittoresken Waldkulisse auch der Held nicht lange auf sich warten. Die Armbrust in der Hand, die Essenz des Männlichen auf der Lippe, taucht Tell im Tarnkleid als Jäger auf. Auge in Auge wähnt er sich mit dem Hirsch, »Feder von seiner Feder«, als auch schon mit »Ding-Dong« der Lastenaufzug des Hauses den Landvogt Gessler, die spiegelnde Plastikplane im weißen Frottee anstrebend entlädt: den Vierwaldstätter See, der bekanntlich lächelnd »zum Bade lockt«.
Friedrich Schillers Schauspiel nimmt mit einem Best-of an Sprüchen garniert auch in dieser Fassung seinen Lauf, basiert hier aber auf der Erkenntnis, dass der Nationalmythos um den Apfelschuss und den Rütli-Schwur nur die dreiste PR-Folklore eines Landes ist, das nur eine Freiheit kennt: im Mäntelchen der Neutralität mit allen Geschäfte zu machen. Nicht Mär noch Saga gibt deshalb die Handlung vor, sondern der aktuelle gesellschaftliche Diskurs von LGBT bis Love Me Gender, vom Klimawandel bis zu Big Brother. Und nolens volens ändern sich mit der Perspektive auch die Rollen.
Béla Milan Uhrlaus Wilhelm rutscht als begriffsstutziger Waldschrat in Lex-Barker-Franzen ganz an den Rand des Bühnengeschehens. Dass der Reichsvogt, genervt von seinem Zögern, ihm den finalen Apfelschuss erlässt, scheint Tell dennoch zu kränken. Nicht in der hohlen Gasse zu Küssnacht, sondern wie weiland Marat in der Wanne wird Gessler von ihm erlegt – für entgangene Mannesehren. Das Apfel-Verdikt ist denn auch sehr untypisch für den zwischen Wein und Wellness weidenden Genießer Gessler, den Daniel Scholz in köstlicher Larmoyanz als unglücklichsten aller Herrscher in der rückständigsten aller Provinzen gibt. Besonders im zweiten Teil des Abends dominiert er mit Edda Wierschs feministischer Zeitgeist-Consulterin Berta von Bruneck und Sebastian Schulze als einen völlig aus der Spur geratener Tell-Sohn Walther das Bühnengeschehen. Ein pas de trois, zu dem sich das gelungene Darmstadt-Debüt von Florian Donath als Ulrich von Rudenz ebenso glücklich gesellt wie das spürbar von Spaß getragene Ensemblespiel von Hubert Schlemmer, Thorsten Loeb und Ali Berber in diversen Männerrollen – und der grandiose Auftritt von Karin Klein. Ihr trockenderber Jargon als die hyperpatriotische Helvetin Stauffacher und Tells Frau Hedwig rockt fast im Alleingang das Haus – hat nach der Pause allerdings, Schiller geschuldet – nicht mehr viel zu sagen.
Auch wenn nicht jeder Gag, nicht jeder Einfall (Lautsprecheransagen, Monitore) ein Treffer ist und der Blick zur Uhr nicht ausbleibt, gerät Gustav Ruebs randvolle Inszenierung nie außer Tritt. Keine Minute langweilig, allenfalls die ein oder andere halbe. Selten so gelacht. Und hingehen, auch wenn‘s weh tut!