»Kindheit im Wandel – Von der Aufklärung zur Romantik« im Romantikmuseum

Kindheit – wann beginnt sie, ein eigenständiges Lebenskapitel zu werden, wann ist sie mehr als bloß Zucht und Ordnung und Arbeit im elterlichen Haushalt oder das mehr oder minder illusionslose Hineinwachsen in einen erwachsenen Lebenskosmos?
Das Romantikmuseum im Goethehaus hat zu diesem Thema eine Sonderausstellung konzipiert und nimmt die Lebenszeit Goethes als zeitliche Klammer. Bedeutende geschichtliche, gesellschaftspolitische und ideengeschichtliche Strömungen und Aufbrüche markieren diese Epoche, die Aufklärung, der Einfluss Napoleons auf Europa, die Romantik. Wie reflektieren Erziehungsvorstellungen diese Umbrüche? Da von Johann Wolfgang von Goethe viele schriftliche Zeugnisse über die Kindheit erhalten sind, in »Dichtung und Wahrheit« und auch im »Jungen Werther« befragt das Museum deren gesellschaftlichen Kontext und spiegelt anhand der Familien Goethe, La Roche-Brentano, Gontard und de Bary Erziehungskonzepte im Wandel eben dieser Zeit.
So papiern sich das jetzt anhört: die Kuratoren haben eine ganz zauberhafte, profunde wie unterhaltsame Ausstellung entworfen, die klugerweise nicht unterschlägt, um welche Kinderleben es geht: die des Bürger- und des Großbürgertums. Die Mehrheit lebte in Armut, die Kindersterblichkeit war hoch, auf dem Land gab es kaum Möglichkeiten für Bildung. Im Zeitalter der Romantik herrschten durchaus keine romantischen Lebensbedingungen. Durch die industrielle Revolution verschlechterte sich die Situation der Kinder, viele mussten in Fabriken arbeiten gehen. Stets wird hier in der Ausstellung der gesellschaftliche Kontext mitgedacht, aber eben auch die Entwicklung des Bürgertums, das zunehmend gesellschaftspolitischen Einfluss gewann.
Zunächst einmal steht da ein verspiegeltes Tor, das durchschritten werden will. Das Bild vom Tor in eine andere, neue Welt entstammt der Romantik, am berühmtesten umgesetzt wurde es wohl in »Alice im Wunderland« von Lewis Carroll. Durch ein Tor zu schreiten und eine neue rätselhafte Welt zu betreten, begleitet als roter Faden den gesamten Ausstellungs-Parcours, von Kapitel zu Kapitel und von Tor zu Tor schreitet man voran. Farbige Klebepunkte helfen zusätzlich, die Übersicht bei dem überbordenden Inhalt nicht zu verlieren.
Denn es gibt viel zu sehen – und auch viel zu lesen. Zum Beispiel die Schreibübungen des jungen Goethe, aber auch eine seiner ganz frühen Zeichnungen, auf der er mit seiner Schwester Cornelia um eine Puppe balgt. Tatsächlich sind auch zwei Puppen aus der Zeit erhalten, die eine stammt von 1750, die zweite von 1780, und es gibt eine Schösschenjacke von Cornelia aus Brokatstoff mit Spitzenmanschetten zu sehen. Das Material: kostspielig.
Während es bei der Familie Goethe wohl recht warmherzig zuging, schien das bei Brentanos und La Roches nicht der Fall gewesen zu sein. Die Kindererziehung orientierte sich dort am französischen Vorbild, d.h., man gab seine Kinder schon recht frühzeitig aus dem Haus. Mit sechs Jahren bereits lebten sie im Kloster oder in einem Internat. Hier ist auch die Korrespondenz der Eltern und ihrer Kinder erhalten, die einzige Form der Kommunikation, denn der Nachwuchs kehrte nicht einmal zu hohen Feiertagen ins elterliche Haus zurück. Die hier zu sehenden Gemälde aus der Zeit verdeutlichen, wie sich eine Familie präsentiert sehen wollte: in liebevoller Interaktion – oder eben steif aufgereiht wie die Orgelpfeifen.
Diese Frankfurter Familien sind die Leitsterne der Ausstellung. Spannend nachzuvollziehen, wie sich die Pädagogik neu orientiert, wie sich in Abwendung der rein kirchlichen Literatur (Bibel und Katechismus) Lerninhalte und Spiele entwickelten. Die Ausrichtung der sich von der Kirche ablösenden Schule gewann unter den neuen bildungspolitischen Ideen um 1790/1800 immer mehr an Gewicht, und besonders fortschrittlich zeigten sich zwei Frankfurter Schulen: die Musterschule und das jüdische Philanthropin. Plötzlich gibt es auch richtige Kinder- Bücher, der »Kinderfreund« von Friedrich Eberhard von Rochow, und das »Elementarwerk« von Johann Bernhard Basedow, die schon viel Welthaltiges vermittelten. Gesellschaftspolitische Theorien der Philosophen Johann Gottfried Herder, der ja auch Erzieher war, und Jean-Jacques Rousseau schufen dazu über Jahrzehnte hinweg eine Form von ideellem Unterbau: Kleine Kinder sollten sich erst einmal spielerisch und frei entwickeln, die Erziehung nicht früher als mit sechs Jahren einsetzen.
Kaum kann man sich sattsehen an dem, was ein Kinderleben von nun an bevölkert: bunte Buchstabenleporellos zum Lernen des Alphabets, Buchstabenkarten mit Tierbildern, Ausschneidepuppen, einem Taschenglobus, Zauberkästen, Verkaufsläden, Zinnfiguren, Holzpferdchen zum Nachziehen, Brokatpapiere aus Gold, die man an einem Stand am Frankfurter Dom kaufen konnte. Auf Vieles kann das Museum besonders stolz sein: beispielsweise auf »Der kluge Schwan«, ein Spiel, welches auch der kleine »Emile« im Roman von Jean Jacques Rousseau spielt, und auch auf dem Zauberkasten der Enkel Goethes.
Kindheit wird immer mehr zu dem, woraus die Romantik ihren Lobeskranz flocht: ein bewundernswerter Zustand ganz nah an der Natur und an der Schöpfung. Parallel dazu erhalten Lieder und Märchen als Kunstgattungen einen ganz neuen Stellenwert. Und am Schluss steht die ganz unverrückbare Einsicht, dass beispielsweise »Momo« und auch »Das Tintenherz« viel mit den in der Romantik entstandenen Vorstellungen von Kindheit zu tun haben.

Susanne Asal / Fotos: © privat
Bis 21.1.: Mo., Di., Mi., Fr., Sa., So., 10–18 Uhr; Do., 10–21 Uhr
www.deutsches-romantik-museum.de

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