Staatstheater Mainz: Anna Gschnitzer überschreibt Sophokles mit »Ich, Antigone«

Ein Bild der Verwüstung, wie es uns inzwischen nur zu gewahr ist aus den TV-Nachrichten, öffnet sich mit dem weichenden Vorhang: das zerborstene Innere eines hohen Gebäudes, das mal ein Palast gewesen sein mag. Ein metallisches Crescendo schwillt bis zur Schmerzgrenze an, schnaufend hastet eine vermummte Figur über Brandflocken, Schutt und Autoreifen (!) zu einem mit Plastikplane umwickelten leblosen Körper: Es ist Antigone (Leandra Enders), die ihren gefallenen Bruder Polyneikes gegen alle Verbote bestatten will im bürgerkriegszerstörten Theben.
Soweit kennen wir die Vorlage. Dann aber steigen plötzlich schwarz umhüllt die Toten aus den Trümmern und verkünden im Sprechkanon, der Staub ihrer selbst zu sein, zu dem alles wird und der sich auf alles legt. Also auch auf die Tragödie des Sophokles? Das könnte man platterdings so deuten, doch geht es hier um das, was sich auf uns, in uns und mit uns fortsetzt von denen, die einmal waren. Und was einfach nicht wegzuwischen ist, wie die sich aus dem Leichenchor lösende Iokaste (Kruna Savic), ihrer gegen sie wütende Tochter klar zu machen sucht.
»Ich, Antigone« am Staatstheater Mainz titelt die im Auftrag entstandene Überschreibung der klassischen Sophokles-Tragödie durch die österreichische Dramaturgin Anna Gschnitzer. Nach ihrem erfolgreichen Stück »Einfache Leute« ist es die zweite Arbeit der 38-jährigen für das Haus. Erneut führt Alexander Nerlich die Regie und setzt in der düsteren Welt von Bühnenbildnerin Thea Hoffmann-Axthelm eine Titelfigur in Szene, die viel präsenter agiert als ihr 2.500 Jahre altes Original und gar post mortem noch im erneuten Dialog mit der Mutter ihr Tun hinterfragt. Wiewohl man im Neusprech sagen könnte, dass die Autorin Antigone und Ismene (Lisa Eder) feministisch empowert, geschieht das keineswegs mit aufgekrempelten Ärmeln.
Im Kern bleibt die Inszenierung dem Original jedoch ziemlich treu. Soeben haben die um Theben kämpfenden Zwillingsbrüder der Schwestern einander getötet: Polyneikes als abtrünniger Angreifer und Eteokles als herrschender Verteidiger der Stadt. Dem Befehl des neuen Königs Kreon (Dennis Larisch), den Leichnam des Verräters den Geiern und Hunden zu überlassen, widersetzt sich Antigone und büßt dafür mit ihrem Leben.
Den 80-minütigen Weg dahin hat Anna Gschnitzer in sprachlich verheutigten Dialogen und Monologen angelegt, die Nerlich als eine fortgesetzte Reihe von Schauduellen und Reden vor dem als Volk von Theben fungierenden Publikum inszeniert. Immer wieder wenden sich die Figuren an die Zuschauenden und sprechen sie wie König Kreon (»Liebe Freundinnen und Freunde«) gar direkt an. Antigone gibt sich stur kompromisslos, fundamentalistisch, wenn man so will und geht mit ihrer Mutter (»Deine Diplomatie hat uns hierhergeführt«) nicht minder ins Gericht wie mit der realpolitisch vernünftelnden Ismene (»Der Frieden ist aus Kompromissen gemacht«) sein. Gschnitzer lässt ihre Titelheldin für mehr als nur ein Recht, sondern für eine andere Gesellschaft gegen die königliche Tyrannei Kreons kämpfen. Dem freilich ist alles »Bullshit«, was ihm da die »letzte Generation« entgegenstellt. In Jeans, Trenchcoat und Cowboy-Stiefeln (Kostüme: Zana Bosnjak) bedient sich Larischs Kreon in Sprache und Gestik aus dem Lehrbuch des Demagogen, der alles abprallen lässt, was ihn infragestellt. Auch den eigenen ohnmächtigen Sohn Haimon (David T. Meyer), den er als unmännisch abkanzelt, auch den Seher Teiresias (Sabah Qalo), dem er unterstellt, gekauft zu sein.
Die Ratlosigkeit, die sein Machtrigorismus hinterlässt, beschränkt sich nicht nur auf das Bühnenpersonal, gibt es doch kaum einen Wortwechsel, der uns nicht auch direkt oder suggestiv mit aktuellen Fragen konfrontierte. »Ich, Antigone« ist ein intensives, aber auch schwungvoll präsentiertes Stück, das immer wieder zu überraschen weiß: Da tanzt Antigone mit ihrem toten Bruder, da wird der Fluch der Labdakiden mit einem Puppenspiel erklärt, der ganze Saal als Spielort benutzt und da wird am Ende Ismene das letzte gemeinschwesterliche Wort überlassen. Wenn das mal keine Botschaft ist. Theater mit Nachhall, das es zu sehen, und mehr noch zu hören gilt.

Winnie Geipert / Foto: © Andreas Etter
Termine: 25. September, 19.30 Uhr; 29. September, 18 Uhr
www.staatstheater-mainz.com

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