Staatstheater Wiesbaden: Stefan Pucher hebt den Büchner-Klassiker popgewaltig ins Heute

Frage an unseren Frühstücksbesuch, eine Grundschullehrerin, 26 Jahre. »Kennst du Woyzeck von Büchner?« »Klar, haben wir in der Schule gelesen.« »Und wie fandst du es?« »Hab‘ ich vergessen. Naja, anstrengend.«
An dieser Stelle bin ich mir vollkommen sicher: als anstrengend wird das von Stefan Pucher und Hannah Stollmayer inszenierte pralle Stück Theater kaum jemand empfinden! Dazu ist es einfach zu sehr Pop. Richtig guter Pop. Beginnend mit dem KI generierten, irgendwie aus dem Sgt. Pepper Cover gesprungenen Georg Büchner selbst, der von hohen Leinwänden am Bühnenrand aus mit definitiv auch heute noch aufrührerischen Texten aus dem Hessischen Landboten agitiert. Es folgen lose Szenen aus dem Fragment gebliebenen Werk des Goddelauer Arztsohns, wie die auf dem Jahrmarkt, atemlos und bildgewaltig, mit furioser Videoshow (Ute Schall/Hannes Francke) und starkem Ensemble. Dann Lennart Preinings Auftritt als Kajal-geschminkter Tambourmajor (das sind die, die bei einer Militärkapelle vorangehen und mit einem schicken Stock fuchteln), mit einem total exaltierten Tanz, so wild, dass es schon gefährlich wirkt auf dem schmalen Steg, der von der ungemütlich gestalteten Bühne Nina Pellers direkt ins Publikum züngelt.
Aber die Schau stiehlt er den beiden Protagonisten damit nicht: Abdul Aziz Al Khayat, der als Woyzeck erstmal tut, was Woyzecks eben tun: Erbsen würgen, sich vom Arzt verarschen, vom Hauptmann belehren und vom Tambourmajor verprügeln lassen; und immer mal wieder was abdrücken an Marie und beider Kind. Bei all den schillernden Figuren, den alles noch verstärkenden Songs und Videos, wirkt sein Spiel, so eindringlich er sein Leid auch rüberbringt, seltsam verhalten. sogar schuldbewusst. Völlig anders Tabea Busers Marie. Die hat eine Agenda, an die sie glaubt. Auch sie ist in verzweifelter Lage, aber sie ist stark, und macht das mit Verve allen klar, dem Publikum und durchaus auch dem sie gängelnden Tambour. Und je mehr von den kurzweilig kurzen 80 Minuten des Stücks vergehen, desto klarer wird, dass in dieser Umgebung eines gewiss nicht mehr geht: der Messermord durch den geschundenen, aber irgendwie larmoyanten Woyzeck an einer Marie, der nichts ferner liegt als der Hang zum Opferstatus. Aber auch diese Situation löst Stefan Pucher, originell und überraschend, mit einem von Buser und Al Khayat selbst verfassten Rap, der manchem noch auf dem Heimweg die Ohren schlackern lässt.

Thomas Bagatsch / Foto: © Maximilian Borchert
Termine: 1., 6. November, 19.30 Uhr
www.staatstheater-wiesbaden.de

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