Melancholischer Rückblick
Nun hat Uwe Eric Laufenberg zum Ende seiner Intendanz doch noch Frieden mit jenem Genre geschlossen, das er in seiner – von vielen Störgeräuschen durchzogenen – Amtszeit geradezu sträflich vernachlässigt hatte: das Musical.
Lediglich vier Musicals fanden in den zehn Jahren seine Gnade: das mehr der Wiener Operette als dem Broadway nahestehende »My Fair Lady«, zwei eher opernhafte Lloyd Webber Musicals (»Jesus Christ Superstar« und »Evita«) und das in politisch unruhigen Zeiten immer als Allzweckwaffe eingesetzte »Cabaret«. Verwunderlich,denn das Theater beherbergt unter seinem Dach mit dem »Jungen Staatsmusical« und seiner vielfach ausgezeichneten Leiterin Iris Limbarth ein semiprofessionelles Ensemble, das jährlich zwei bundesweit beachtete Musical-Produktionen auf die Beine stellt.
Als Laufenberg das Londoner Westend-Revival des 1971 am Broadway uraufgeführten Stephen Sondheim-Musicals »Follies« sah, war er nicht nur von der visuellen Opulenz beeindruckt, sondern sah er in dem melancholischen Rückblick auch das geeignete Stück für seinen Abschied. Er erwog sogar, es selbst zu inszenieren, entschied sich aber, die Regie Iris Limbarth zu übertragen. Als diese 2021 während der Inszenierung von »Cabaret« erkrankte und das Schauspiel-Ensemblemitglied Tom Gerber die Regie übernahm, vertraute ihm Laufenberg auch »Follies« an.
Am Anfang steht ein hübscher Regie-Einfall: Da tappert der alte, zerbrechliche Weisman im weißen Frack und mit Rollator über die Bühne. Etwas zu dick auf Zombie geschminkt, aber immer noch mit einer gewissen Grandezzaa. Der im Bühnenhintergrund aufleuchtende Schriftzug »Weisman´s Follies« spielt auf den Broadway-Impressario Florenz Ziegfield Jr. (1867-1932) an und dessen legendäre »Follies«-Revuen (1907–1931). Als Weisman dann in den Orchestergraben hinabsteigt und scheinbar ungelenk die Ouvertüre dirigiert, wartet man darauf, dass hinter ihm der musikalische Leiter Albert Horne auftaucht, um ihn am Pult abzulösen. Aber Weismann entpuppt sich als Horne, der nicht nur das Hessische Staatsorchester Wiesbaden glänzen läßt, als habe es nie was anderes gespielt, als jenen jazzigen Broadway-Sound der 30er Jahre. Auch schauspielerisch und gesanglich (»Die traumschönen Frau’n«) braucht er sich hinter seinen Kollegen vom Fach nicht zu verstecken.
Zu Weisman und in sein Theater, das im Jahre 1971 vor seiner letzten Show steht, weil es einem Parkhaus weichen muss, sind sie alle gekommen, die Stars von gestern, einschließlich vorhandener Ehemänner. Da Stephen Sondheim und sein Librettist James Goldman – ein renommierter Hollywood-Autor, der für sein Historiendrama »Ein Löwe im Winter« 1969 mit dem Drehbuch-Oscar ausgezeichnet wurde – »Follies« als Concept-Musical geplant hatten, sucht man vergeblich eine durchgängige Handlung. Es sind eher »Szenen einer Ehe« voller Schuldzuweisungen und Selbstvorwürfen, die sich an diesem Abend abspielen: Illusionen zerbrechen und Chancen wurden verpasst. Jeder der großartigen Songs von Stephen Sondheim erzählt dazu eine eigene Geschichte, präziser und poetischer als so manch ausufernder Dialog. Wohl auch deshalb hat man sich dazu entschlossen, das Musical komplett auf Deutsch zu spielen, obwohl die für die Dresdener Aufführung 2019 erstellte Neuübersetzung von Martin C. Berger vor allem bei den Liedtexten nicht die Qualität der von Michael Kunze für die deutsche Erstaufführung geschriebenen Fassung erreicht. Mit Übertiteln hätte man dieses Problem allerdings leicht lösen können. So kommt der geistvolle Witz, das psychologische Feingefühl von Sondheims Liedtexten nicht immer über die Rampe.
Im Mittelpunkt der Abschiedsparty stehen die beiden Ehepaare Sally (Pia Douwes) und Buddy (Dirk Weiler) bzw. Phyllis (Jacqueline Macaulay) und Ben (Thomas Maria Peters). Dazu gesellen sich viele ehemalige Showgirls, die viel aus ihrem Leben nach der Bühnenkarriere zu erzählen haben. Goldman hat sich einen dramaturgischen Kniff ausgedacht: Er stellt den Hauptprotagonisten ihr jugendliches Alter Ego an die Seite und kann so auf zwei Zeitebenen das nicht ohne Irrungen und Wirrungen verlaufende Spiel entwickeln. Denn Sally liebt immer noch Ben, der ihr damals einen Korb gab. Sallys Mann Buddy sehnt sich nach Liebe und Geborgenheit, die ihm seine Frau verwehrt. Also flüchtet er sich in Affären. Auch Ben ist mit Phyllis nicht glücklich geworden, weil er nie die Fähigkeit zu lieben erlernt hat. Das Midlife-Geplänkel des Quartetts zieht sich unnötig in die Länge, weil Gerbers Inszenierung vor allem im zweiten Akt das Timing fehlt. Nur durch das auf Augenhöhe spielende, singende und tanzende »junge« Quartett – Kelly Panier (Sally), Larissa Hartmann (Phyllis), Niklas Roling (Buddy) und Johannes Summer (Ben) – und ihrem Zusammenspiel mit den »Alten« kommt ab und an mehr Schwung ins Geschehen. Leider erweist sich die Verpflichtung der international gefeierten Musical-Darstellerin Pia Douwes nicht als der erhoffte Coup: Nach einem Burnout und einem zeitweiligen Stimmverlust ist die Niederländerin noch nicht wieder auf der Höhe ihres Könnens. Besonders deutlich wird das, als sie den Showstopper (»Ich verlier‘ den Verstand«, »Losing My Mind«) weder gesanglich noch mit charismatischer Ausstrahlung zu einem der Höhepunkte des Abends machen kann. Dafür stehlen ihr ihre alten Revue-Kolleginnen Jacqueline Macaulay (Phyllis), April Hailer (Carlotta), Stella Andrea Baker (Hattie) und Sharon Kempton (Heidi) die Show. Eine Show, die gleich im ersten Akt mit der von allen ehemaligen Revue-Girls performten Spiegel-Nummer »Wer ist die denn« dem Broadway Paroli bietet. Dieser hierzulande selten zu sehenden Qualität schließen sich auch die dynamischen (Step-)Choreografien Myriam Lifkas´ und Bettina Neuhaus´ detailverliebtes und atmosphärisch dichtes Bühnenbild nahtlos an. Chapeau!