The English Theatre startet mit der Uraufführung »The Vanishing Room« brisant in die neue Saison

Das ganz große Spiel um das English Theatre findet im wirklichen Leben statt – und es ist noch nicht ausgemacht, ob die Gespräche um seine Zukunft tragisch oder happy enden. Seit aber die EZB ihr Interesse am Gallileo-Tower, der Spielstätte der Bühne, signalisiert, herrscht Zuversicht im Team um dessen künstlerischen Leiter Daniel Nicolai. Als goldrichtig soweit erweist sich seine Entscheidung, allen Räumungstiteln zum Trotze einfach weiterzumachen. Sie hat der größten englischsprachigen Bühne des Kontinents nun die allerallererste »world premiere« beschert. Von Olivia Hirst und dem Regie führenden David Byrne verfasst, hat »The Vanishing Room« (Raum des Verschwindens) seine frenetisch gefeierte Uraufführung erlebt. Im Anschluss zieht es nach London ans »New Diorama Theatre« und New York ins »59E59 Theatres«. Womit denn auch klar ist, dass der Titel keine bittere Groteske des English Theatre in eigener Sache meint.
Aber very british wird es schon. Richten Sie sich auf eine düstere Zeitreise ein und auf mysteriöse Geschehen von historischem Rang in einem exklusiven Privatclub der britischen Oberschicht dicht am Nukleus der ewigen Macht. »Wir können tun, was wir wollen«, lautet denn auch ein mehrfach wiederholter Satz. Es geht, dieses vorweg, um die ganz große Politik – und das Schmutzige, das man nicht mitkriegen darf.
An den Anfang ihrer Story setzen die Autoren eine wahre Begebenheit aus dem Jahr 1824. Da hat die um Ruf und Reputation besorgte Family des so großen wie berüchtigten Dichters Lord Byron nach dessen Tod alle privaten Aufzeichnungen des Genius vernichtet. »Am I in it?« fragt seine Frau Anne und lässt dem prompten Ja plus Seitenangabe ein kompromissloses »Burn it!« folgen. Das mit dem Einverständnis des Verlegers John Murray vollzogene »größte Verbrechen der Literaturgeschichte« steht am Anfang des Stücks, aber auch des fortan als Geheimloge agierenden Clubs, der im Laufe der nächsten 200 Jahre immer wieder hochbrisante Papiere, Beweise, Dokumente von Staatsrang verbrennen und verschwinden lässt, möge es koloniale Verbrechen in den Boxer-Kriegen oder im indischen Freiheitskampf sein oder finstere Machenschaften rund um den Brexit.
An die hohe, die Bühne abschirmende hölzerne Kassettenwand wird das jeweilige Jahr des Geschehens projiziert, in dem die zwischen den Zeiten (time-bending) springende Handlung spielt. Fast immer dabei und im Bild sind ein John Murray (I-VI), und ein Diener Daniel mit indischem Migrationshintergrund, den der Club als Analphabeten wähnt, der aber, wie wir bald erfahren, heimlich notiert, was um ihn herum geschieht, werden im Club doch nicht nur Papiere, sondern mit Brainwash-Drogen auch Erinnerungen und, wenn das nicht hilft, die Beteiligten selbst eliminiert.
Zu den Stars der Inszenierung zählt fraglos ein die statische Bühne beherrschender Koloss von Tisch. Das teilbare Möbel gestaltet von Szene zu Szene in immer neuen Varianten die Räume des ominösen Gebäudes: vom Meeting-Room über Küche und Kammer bis hinauf auf das Dach. Sein menschliches Pedant ist der grandios virtuos aufspielende Peter Clements, der nicht nur die John Murrays, sondern auch den dubiosen Ermittler Charlie verkörpert. Sein kongenialer Partner ist Anant Varman als der sich in Unterwürfigkeit schickende schlaue Diener Daniel. Einmal mehr demonstriert die sich alle weiteren Rollen teilende Besetzung mit Katy Brittain, Christopher Ettridge, Jonny Khan und Annabel Smith den hohen Standard der britischen Schauspielkunst. Ein ungewöhnliches Stück, das knapp zweieinhalb Stunden netto dauert und sehr komplex ist, dafür aber auch richtig spannend wird. Gute Englisch-Kenntnisse vorausgesetzt, ein Must.

Winnie Geipert / Foto: © Birgit Hupfeld
Bis 29. Oktober: Di.–Sa., 19.30 Uhr; So., 18 Uhr
www.english-theatre.de

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