Tödliche Konkurrenz »Anatomie eines Falls« von Justine Triet

Hat eine erfolgreiche Schriftstellerin ihren Ehemann umgebracht, oder hat dieser sich selbst das Leben genommen? Das ist die Frage, die sich in dem französischen Gerichtsdrama »Anatomie eines Falls« stellt, für das es in diesem Jahr in Cannes die Goldene Palme gab. Das verwundert nicht, denn der Film der französischen Regisseurin Justine Triet passt mit einer durchaus sympathischen Protagonistin genau in den derzeitigen Arthouse-Trend.

Sandra Hüller spielt die deutsche Schriftstellerin Sandra, die mit ihrem Mann Samuel (Samuel Theis) und dem stark sehbehinderte Sohn Daniel (Milo Machado Graner) in einem Chalet in den französischen Alpen nahe Grenoble wohnt. Triet hat die Rolle von vornherein für sie geschrieben, weil sie Hüller nach ihrer Zusammenarbeit bei »Sybil«, ihrem vorigen Film, ideal für die Verkörperung einer »freien Frau« fand, die Sexualität, Mutterschaft und Arbeit in ihrem Leben einen angemessenen Platz zu geben versucht.
Der neue Film beginnt mit einem Interview. Sandra flirtet mit der jungen Journalistin, doch das Gespräch wird stark aus der oberen Etage gestört. Samuel beschallt das Haus mit »P.I.M.P.« von der Bacao Rhythm and Steel Band in Endlosschleife (übrigens eine originelle Musikidee). Sandra sagt, das sei seine Angewohnheit beim Arbeiten. Doch die beiden Frauen können sich nicht mehr konzentrieren – die Interviewerin fährt davon.
Stunden später findet Daniel nach einem ausgedehnten Spaziergang mit seinem Hund Snoop den Vater vor dem Haus, tot in einer Blutlache liegend. Offenbar ist er aus dem obersten Stockwerk des Chalets gestürzt. Hat er einen Schlag verpasst bekommen? Oder stammt die klaffende Kopfwunde von einem Aufprall auf dem Vordach? Blutspuren werden vermessen, eine Puppe wird heruntergestoßen und deren Fall analysiert, um herauszufinden, ob es ein Unfall, Selbstmord oder Mord war. Sandra nimmt sich einen Anwalt, Vincent (Swann Arlaud), der ausschaut wie ein Bruder des toten Samuel.
Ein Jahr später steht Sandra als Angeklagte in einem eindrucksvollen Gerichtssaal. Der Staatsanwalt (Antoine Reinartz) ist einer von der harten Sorte. In seinen Vernehmungen springt er oft von Zeugen zur Angeklagten und zurück, so dass eine Art Dreier-Gespräch entsteht, das wir aus den klassischen, zumeist angelsächsischen Gerichtsfilmen nicht gewohnt sind. Bei den Vernehmungen stellt sich heraus, dass Sandras Ehe nicht so harmonisch war, wie sie zunächst vorgibt.
Der Unfall, bei dem Daniel einen großen Teil seiner Sehkraft verlor, spielte eine Rolle in ihrer Ehekrise. Samuel unterrichtete neben seiner Professur an der Uni auch seinen Sohn, versorgte den Haushalt und versuchte seit Jahren, einen Roman zustande zu bringen. Dabei hat er sich übernommen, machte aber Sandra dafür verantwortlich. Sie habe auch in ihrem Buch, dem sie sich die ganze Zeit habe widmen können, eine seiner Ideen verwertet.
Vor Gericht wird das Drama einer Ehe lebendig, weil Samuel ganze Streitereien aufgenommen hat und der Film eine längere Tonaufnahme in einer Rückblende mit Bildern versieht. So, als ob Ingmar Bergman in Otto Premingers »Anatomie eines Mordes« landen würde. Etwas merkwürdig ist allerdings, dass der elfjährige Daniel den ganzen Prozess mitverfolgen darf, was ihn schließlich auch zu einer entscheidenden Aussage veranlasst.
Sandra Hüller in der Rolle einer bisexuellen Frau, die wegen eines Techtelmechtels mit ihrem Anwalt unseren Verdacht weckt, war eine hervorragende Wahl. Sie kann eben auch hinter ihrer umgänglichen Art eine dunklere Seite andeuten. Und Hundefreunde kommen mit dem Border Collie Snoop, der bei seinem wichtigen Beitrag zur Aufklärung des Falls beinahe umgekommen wäre, voll auf ihre Kosten.

Claus Wecker / Foto: © Les Films Pelleas/Les Films DePierre
>>> TRAILER
ANATOMIE EINES FALLS (Anatomie d‘une chute)
von Justine Triet, F 2023, 150 Min.
mit Sandra Hüller, Swann Arlaud, Milo Machado Graner, Antoine Reinartz, Samuel Theis, Jehnny Beth
Drama
Start: 02.11.2023

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