Theater Willy Praml: Houellebecqs »Serotonin« als Eurovision

Captorix nennt sich die erfundene Medizin, die der Agrarexperte Florent-Claude Labrouste auf Anraten seines Arztes täglich zu sich nimmt, um seinen Vervenhaushalt zu stabilisieren. Das Anti-Depressivum hält den Protagonisten von Michel Houellebeqs 2019 erschienenem Roman »Serotonin« an einem Leben, das er – gesellschaftlich gesehen – mit immer weniger Menschen teilt. Der fehlenden Liebe wegen, aber auch angesichts einer unrettbaren Welt.
Das Theater Willy Praml hat Houellebecqs Roman für die Bühne aufbereitet und folgt dort »einem Menschen, der der Welt nichts zu geben hat, und dem die Welt nichts gibt«. Regisseur Michael Weber liest die aus der Ich-Perspektive geschilderte Geschichte als die eines in völliger Isolation mündenden Ausstiegs aus einer Welt, die der Protagonist in seinem verdunkelten Zimmer im obersten Stock eines Hochhauses nicht einmal mehr ansehen mag. So, wie der Autor früher selbst, im Landwirtschaftsministerium angestellt, wird die Figur zu einem leidenden Chronisten des Untergangs der regionalen Erzeugerkultur der Bauern: die Aprikosen des Roussillon, der Käse, die Kühe der Normandie, weggeschwemmt von der viel zu billigen Milch, dem viel zu billigen Fleisch. Nichts, das man nicht teilen würde.
Mit seinem Schopenhauer-geprägten Blick zeichne Houellebecq eine »Tragödie der Umstände«, für die es keine Schuldigen gebe, meint Weber: »Es gibt niemanden, der etwas Böses will, und doch geht alles zugrunde, gibt es Tote«. Nicht nur in Frankreich. Webers Bühnenfassung führt den Zusatz »Eurovision« und wird von Marc-Antoine Charpentiers Te Deum akustisch untermalt.
Florent-Claude Labrouste sei ein stummer Beobachter der gesellschaftlichen Verhältnisse, der – so die Homepage des Theaters – »nicht einmal mit den Achseln zuckt. (…) Er könnte wie Jeanne d‘Arc versuchen, Frankreich zu retten, das Schwert gegen Freihandelsabkommen und EU-Richtlinien zu erheben, aber er ist nicht in der Lage, den kleinen Finger zu rühren, für den Selbstmord fehlt ihm die Entschlusskraft, lieber einfach die Tür hinter sich zumachen. Fertig.« Am bitteren Ende im Hochhaus-Appartement führe Houellebecqs Titelheld ein inneres Zwiegespräch, vielleicht gar mit Gott. Dass die wie eine Hostie zu brechende Captorix-Tablette voll religiöser Symbolik steckt, ist für Weber, der die Werbeplakate für seine Inszenierung mit dem Deckengemälde der Steingadener Wieskirche schmückt, offensichtlich.
Drei Frauen und drei Männer geben auf einer mehrteiligen in die Halle hinein verlegten 40 Meter breiten Bühne aus Vorhängen den Ich-Erzähler, als einzige Fremdfigur tritt der Arzt in Molière-hafter Aufmachung wie eine sich ins falsche Stück verirrende Figur in Erscheinung. Molière? Man könne das extrem distanziert geschilderte Grauen gar nicht anders als mit clownesken Elementen auf die Bühne bringen, meint Weber. Die Sprache fungiere als Schutzpanzer und mache das Grauen zur Farce. Tragödie oder Komödie – eine Frage der Perspektive von alters her.

gt / © TWP

Termine: 26.–28. August, 2.–4., 9.–11., 16.–18. und 23.–25. September, jeweils 20 Uhr
www.theaterwillypraml.de

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