Thomas Bernhards »Auslöschung. Ein Zerfall« am Staatstheater Darmstadt

Es gibt Bühnen, die sind vollgestellt, und es gibt solche, die sind leer. Auf manchen wird die Handlung bebildert, auf anderen der Text einer Deutung überführt. Wenn das geschieht, dann ist es gut.
Und so findet die Inszenierung von Thomas Bernhards »Auslöschung. Ein Zerfall“ am Staatstheater Darmstadt in einem einzigen (Bühnen-)Bild – neben weiteren sehr gelungenen Bildern – direkt zum Kern des über 600 Seiten langen Romans. Es zeigt den Protagonisten Franz-Josef Murau, wie er als Kind von seinem Vater mit dem Kopf immer wieder in eine Zinkwanne voller Wasser gedrückt wird – und selbst, als der Vater seine Strafe beendet hat, sie weiter an sich vollzieht. Quälend lang. Diese Szene kommt im Roman nicht vor. Aber in ihr konzentriert sich das Verhältnis des Kindes zu seinem Vater, zu seiner nazibraun eingefärbten Familiengeschichte. Der Regisseur Felix Metzner, der auch die Bühnenfassung geschrieben hat, verknappt das Erzählte in Bildern, und er will gleichzeitig das Stilmittel des scheinbar endlosen, auch quälenden Wiederholens, das Bernhard zu einer unglaublichen, und auch unglaublich musikalischen Kunst erhöht hat, sichtbar machen.
»Auslöschung. Ein Zerfall«, geschrieben 1986, ist Bernhards letzter Roman, ist das monologistische selbstreflexive verstörende Fanal, eine Form des sprachlichen Exorzismus des Gelehrten Murau, Sohn einer reichen Landbesitzers-Familie, der seine Herkunft »auslöschen« muss, um überhaupt ein Mensch werden zu können.
Die Herkunft, Schloss Wolfsegg, ist ein unentwirrbares Geflecht aus nie überwundenem Nationalsozialismus, Katholizismus und gesellschaftspolitischen Anmaßungen, das ihn zu erwürgen droht. Bernhards zum Roman gewordene Teufelsaustreibung macht die tiefen Verletzungen spürbar, die sich durch grausame Erziehung, stumpfsinnige geistige Ignoranz und autoritäre Anpassung in Murau als Bodensatz der Erinnerung abgesetzt haben. Der entflieht im Gegensatz zu seinen Geschwistern dem Elternhaus. In seiner Wahlheimat Rom erhält er die Nachricht vom Unfalltod seiner Eltern und seines Bruders, er kehrt nach Wolfsegg zurück, muss zurückkehren, um sein Erbe anzutreten.
Der Roman ist formal in zwei Teile gefasst. Im ersten Teil erzählt Murau, noch in Rom, seinem einzigen Schüler Gambetti von seinem Leben, im zweiten ist er auf das Schloss zurückgekehrt, um an der Beerdigung teilzunehmen. Der innere Monolog wird dabei nie unterbrochen. Metzner und sein Dramaturg Oliver Brunner haben sich bei der Dramatisierung entschlossen, die Familie bis auf den Bruder in persona auftreten zu lassen, Gambetti lässt er Murau-Texte sprechen. Das ist gewagt, denn im Roman kann man sich nicht sicher sein, ob es einen Gambetti tatsächlich gibt oder er der Phantasie Muraus entspringt.
Die in Satzkaskaden schillernde, so kluge wie verzweifelte Anti-Österreich-Suada Thomas Bernhards – denn um nichts Anderes geht es ihm, die Familie und ihr politischer Herkunftsort – materialisiert sich auf der Bühne als Nebel, viel Nebel (Anneliese Neudecker), in undeutlichen Klangspuren (Felix Metzner) in halb geisterhaften Auftritten, besonders der in Dirndl gesteckten Schwestern, die synchron ganz grandios unter ihren Strumpfmasken agieren (Karin Klein, Alice von Lindenau). Auch die Eltern sind derart puppen- und also grauenhaft stilisiert. Dies sind überzeugende Ideen, dem Nazi-Höllenmilieu der Murau’schen Familienwelt direkt entsprungen. Daniel Scholz meistert den Murau schlichtweg fabelhaft, Gambetti (Sebastian Schulze) ist süffisant-arrogant, der »voll-endete« Murau?
Manche Szenen, z.B. die der Gärtner, hätte man sich ebenfalls derart expressionistisch zugespitzt gewünscht. Und man könnte die Inszenierung schon auch befragen, was damit gewonnen ist, die in die vielfältigsten auch widersprüchlichen Sprachgirlanden gekleideten Reflexionen, die noch einen wesentlich weiteren, auch politischen Erinnerungsraum öffnen, auf eine pure Handlungserzählung zu reduzieren. Dass die einzigartige Verdrossenheitskomik Bernhards dabei zu kurz kommt, ist schade. Die Inszenierung vorenthält dem Stück durch diese Reduktion etwas von der Bernhard’schen heiter-tragischen Überlebensstrategie.
»Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann«, schrieb Jean Paul, doch die reflektierende Erinnerung der Kindheit, die der Gelehrte Murau anlässlich des tödlichen Unfalls seiner Eltern vollzieht, offenbart den unverstellten Horror des Erlebten, und gleichzeitig das Erkennen eines dicht unter einer glattgezogenen Oberfläche lauernden nationalsozialistischen Gedankenguts. Das Exerzitium des Erinnerns bei Murau dient der Auslöschung der Erinnerungen, doch dann – folgt der Tod.

Susanne Asal / Foto: © Nils Heck
Termine: 13., 19. April, 19.30 Uhr
www.staatstheater-darmstadt.de

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