Ulrich Woelks neuer Roman »Mittsommertage« zielt mitten in unsere Gegenwart

Hut ab. Der Mann hat am Institut für Astronomie und Astrophysik der TU in Berlin promoviert und bis 1994 in diesem Bereich gearbeitet. Danach hat er die Wissenschaft sozusagen an den Nagel gehängt. Denn bereits 1990 war sein erster Roman »Freigang« erschienen. Den Wissenschaftler merkt man dem Erzähler Woelk allenfalls deshalb noch an, weil nicht nur seine Sprache genau ist, sondern weil er auch genau weiß, was er erzählen will. Woelk versteht sich, sozusagen trotz seiner wissenschaftlichen Vorbildung, vor allem als Zeitgenosse und das hat seinen Rang in der gegenwärtigen Literatur begründet.

Ruth Lambert, 54 Jahre alt, Ethikprofessorin in Berlin, wacht an einem Montag ausgeruht und gut gelaunt auf. Sie soll in die Ethik-Kommission berufen werden, eine Krönung ihrer erfolgreichen Laufbahn. (Uns allen wohlbekannt aus den Corona-Zeiten.) Ihr Mann Ben, ein Architekt, wartet auf die Entscheidung, ob er den Zuschlag für einen lukrativen Auftrag erhält. Eine aufregende Woche steht den beiden bevor.
Wir begleiten Ruth in dieser Zeit, von Montag bis Sonntag, wobei die Wochentage jeweils für ein Kapitel stehen. Doch in dieser Woche gerät ihr Leben ziemlich aus den Fugen. Es beginnt damit, dass sie beim Joggen um den See von einem Hund gebissen wird, sie hat aber keine Zeit, sich darum zu kümmern. Sie muss ihr Philosophie-Seminar halten und sich danach auf ein Interview vorbereiten, das ihr später in den sozialen Netzwerken große Probleme bereiten wird. Hier geht es um heikle Themen. Zu allem Überfluss meldet sich dann, für sie völlig überraschend, ihr alter Freund Stav. Sie hatten sich, als Studenten, vor über dreißig Jahren bei einer Demonstration gegen den Chemiekonzern Hoechst kennen gelernt. Stav war kein Mann der Worte, eher ein praktisch begabter Handwerker. Entsprechend ist die Arbeitsteilung, sie formuliert das Bekennerschreiben, er bringt einen Strommast zu Fall. Stav hat alle Unterlagen darüber aufgehoben. Was hat er vor? Will er sie, so kurz vor dem Höhepunkt ihrer Karriere, eventuell damit erpressen? Am Ende der Woche besucht sie ihren pflegebedürftigen Vater in einem Heim. Auf dem Rückweg, durch Gedanken abgelenkt, verursacht sie einen Auffahrunfall. Ihren Mann, den sie um Hilfe bitten will, ist nicht in seinem Büro, wo er eigentlich sein will. Kommt etwa ihre Ehe noch ins Wanken? Handlungsarmut kann man diesem Autor wahrlich nicht vorwerfen. Trotzdem sind diese verschiedenen Ereignisse in einen schlüssigen Zusammenhang gebracht und sorgen damit für stetige Spannung.
Ulrich Woelk hat ein höchst aktuelles Buch geschrieben. Der Ukraine-Krieg hat gerade begonnen, die Corona-Krise klingt allmählich ab und Klimaaktivisten kleben sich auf Straßen fest. Ruth, 1988 selbst noch aktive Atomgegnerin, die sich damals nicht nur mit Worten engagiert hatte, müsste sich jetzt klar als Mitglied im Ethikrat positionieren. Ihre Gewissenskonflikte machen ihr schwer zu schaffen. Andrerseits kann sie nicht zulassen, »dass alles, was sie erreicht hat, Professur, die Berufung in den Ethikrat und vielleicht sogar ihre Ehe« durch längst vergangene Geschichten, die sie praktisch schon vergessen hatte, jetzt »in einem Strudel versinken«.
Ulrich Woelk verknüpft diese privaten Probleme sehr geschickt mit unserer politischen Entwicklung. Auch das Personal ist geschickt, das heißt schlüssig und glaubhaft, ausgewählt. Er führt keine Sprechpuppen über die Bühne, die seine Ansichten verkünden, sondern Menschen, denen man ihre Schwierigkeiten und ihre Lösungen abnimmt.
Am Ende nimmt Ruth das Joggen wieder auf. Und wieder begegnet ihr ein Hund, der aber, als sie sich auf eine Bank setzt, zu ihr springt und den Kopf auf ihren Schoß legt. »Sie atmet tief ein und sieht in den Morgen über dem See. Ein neuer Tag.«

Sigrid Lüdke-Haertel / Foto: © Bettina Keller
Ulrich Woelk: »Mittsommertage«, Roman
C.H.Beck Verlag, 2023, 285 S., 25 €

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