Uwe Timm blickt zurück: »Alle meine Geister«

Es war einige Jahre nach der Revolte von 1968. Die Verhältnisse hatten sich schon wieder etwas beruhigt, obwohl der »Deutsche Herbst« erst noch bevorstand. Da erschien, 1974, der Erstlingsroman eines jungen deutschen Schriftstellers, eines Linken, der die Ereignisse von 1968 auf einen Begriff brachte, Uwe Timm »Heißer Sommer«. Damit wurde der Autor schlagartig berühmt. Und: er blieb es. »Morenga«, »Die Erfindung der Currywurst«, also ein Erfolg nach dem anderen. Spätestens mit dem »Rennschwein Rudi Rüssel« sicherte sich Timm bereits 1989 seine Altersversorgung. Es folgte eine Reihe autobiographischer Erzählungen, wie »Am Beispiel meines Bruders« (2003). Und jetzt: ein Rückblick.

Der Vater von Uwe Timm betreibt ein gutgehendes Pelzgeschäft, das er »Atelier« nennt. Der knapp 15-jährige Sohn soll es einmal übernehmen. Deshalb darf der rechtschreibschwache Uwe auch nicht aufs Gymnasium gehen. »Besser ein guter Volksschüler, als ein schlechter Gymnasiast.« Uwe beginnt eine Lehre bei dem erfolgreichen Kürschner Erich Levermann, der sechzig Angestellte hat, immer den Satz des Vaters im Ohr: »Du machst mir keine Schande.«
Das Kürschnerhandwerk wird zum Dreh- und Angelpunkt des Buches.
Uwe Timm beschreibt minutiös und mit Leidenschaft und Liebe die einzelnen Arbeitsgänge. Wir erfahren, wie geschickt und genau man sein muss, aber dass man auch eine »Achtung gegenüber der Besonderheit des Materials, der Haardichte, der Haarhöhe und der Farbe hat« und (deshalb) verpflichtet ist, »durch Genauigkeit und Sorgsamkeit dem Leid und Tod der Tiere Achtung zu zollen«. Noch blüht das Geschäft mit den Pelzen, aber der junge Uwe Timm sieht auch schon den Niedergang dieses Berufes voraus. Mit ihm »gehen seine Kenntnisse, seine Handreichungen, Fertigkeiten und auch Jahrhunderte alte Geheimnisse verloren«.
Timm trifft bei seiner Arbeit auf Gesellen und Meister, die ihn prägen und großen Einfluss auf ihn haben. Während der Arbeit saugt Timm die Geschichten, die seine Kollegen erzählen, auf wie ein Schwamm. Sie bilden die Grundlage für die ausführlichen Porträts, die er von ihnen entwirft. Da ist der später bekannte Modemacher Zoern, der Timm an Benn-Gedichte heranführt. Sie »trafen meine Stimmung, meine Unsicherheit, meine Zweifel und schufen Distanz zu den eigenen so bedrängend konfusen Gefühlen«. Er empfindet eine poetische Nähe zum Kürschnerhandwerk. So sucht der alt gewordene Uwe Timm in seiner (eher prosaischen) Jugend die Spuren der Zukunft: »dieses Umbauen, Ausbessern, Ausstreichen, Überschreiben, Verschieben von Textteilen, diese dem Handwerk so nahe Arbeitsweise.«
Da ist Meister Walther Kruse, ein Sozi und Widerständler. Sein Einfluss führt dazu, dass Uwe Timm zu Hause ständige Diskussionen mit den Eltern hat über deren Haltung zu den Juden während der Nazizeit. Er vermittelt ihm aber auch die Begeisterung zur Literatur. Timm verschlingt Tolstoi, Dostojewski, aber auch Hemingway, Camus und Salinger.
Auf diese Weise wird die Werkstatt zur Schule des Lesens und damit des Lebens. Timm erzählt nahezu schwärmerisch von einer Arbeitsatmosphäre, die Marx als »gemütliches Knechtschaftsverhältnis« bezeichnet hatte. Es wird erzählt. Viel erzählt, vom Leben in all seinen Facetten, auch von Liebe, Eifersucht und Trauer. Und von denen, die sich die teuren Mäntel, Jacken, Mützen leisten können.
Timm beendet die drei Lehrjahre mit Auszeichnung. Aber, das weiß er sehr genau: Er weiß, was er nicht will, nämlich ein solches Leben mit Pelzen.
Er sehnt sich nach einem anderen Leben, mit Büchern. Und er möchte selbst schreiben. Als der Vater überraschend an einem Herzinfarkt stirbt, übernehmen Timm, seine Mutter und die Schwester ein völlig überschuldetes Geschäft. Drei lange Jahre arbeitet die Familie daran, die Schulden abzuzahlen, das Geschäft zu sanieren – und, schließlich, zu verkaufen.
Dann ist der Weg für ihn frei. Zwei Jahre studiert Timm am Braunschweig-Kolleg, (zusammen übrigens mit Benno Ohnesorg, der am 2. Juni 1967 ermordet wurde!) um das Abitur nachzumachen. Ungeduldig erwartet er die Abreise, »denn dort wird die Zeit der Wahrhaftigkeit sein«. Danach will er studieren, Literatur, Philosophie. Und vor allem will er »schreiben, Gedichte, Romane, Dramen. Bescheiden war ich nicht.« Brauchte er auch nicht zu sein, denn alles, was er sich so sehnlichst gewünscht hatte, das hat er (auch zum Glück für uns, seine Leser) erreicht.

Sigrid Lüdke-Haertel / Foto: © Isolde Ohlbaum
Uwe Timm: »Alle meine Geister«
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2023, 288 S., 25 €

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