Zu dem großen Tatsachenroman »Die Stadt der Lebenden« von Nicola Lagioia

In manchen Geschichten träumt die Hauptfigur, jemand umzubringen, und dann liegt am morgen die Tatwaffe auf dem Nachttisch, als verstörender Beweis, dass woanders etwas geschehen ist. In diesem Fall hatten Marco und Manuel die Glaswand zertrümmert, die die Wirklichkeit von der Vorstellung trennt, und das Verhältnis von Licht und Schatten ins Gegenteil verkehrt: Von nun an und für immer würden sie jeden Morgen in einem Albtraum erwachen. (Seite 386)

»Was haben wir getan?«, fragt sich einer der Täter in den Tagen nach der Tat. »Wir haben Gott gespielt.« Die in diesem Buch erzählte Geschichte ist wirklich passiert. Ihre Rekonstruktion ist das Ergebnis einer langen Dokumentationsarbeit, sie umfasst Gerichtsakten und Gutachten, Abhörprotokolle, inzwischen rechtskräftige Urteile, Audio- und Videobeiträge, offizielle Erklärungen und Interviews, schreibt der römische Autor Nicola Lagioia im kurzen Nachwort seines Tatsachen-Romans »Die Stadt der Lebenden«.
Gemeint ist Rom. Sein 500 Seiten starkes Buch ist ebenso das Porträt einer ungeheuerlichen Stadt wie der Versuch, ein ungeheuerliches Verbrechen fassbar zu machen. Den Autor kostete dieses Unterfangen mehrere Jahre seines Lebens und beinahe seinen Verstand – so tief wurde noch selten nach den Motiven einer Tat geschürft –, auch seine Leser entlässt dieses Buch nicht unberührt. Es ist harter Stoff. Sehr harter. Dunkelschwarz. Noir, real.
Lagioa, der bereits in seinem mit dem Premio Strega ausgezeichneten Roman »Eiskalter Süden« (La ferocia, 2014) ein unerschrocken gnadenloses Sittenbild von Bari gezeichnet hatte, wagt sich vor in die Dunkelzonen unserer Gesellschaft, unserer ach so modernen Zivilisation. Von der hat der große Robert Musil bereits vor fast hundert Jahren gesagt: »Ich glaube, dass alle Vorschriften unserer Moral Zugeständnisse an eine Gesellschaft von Wilden sind … Unsere Kultur ist ein Tempel dessen, was unverwahrt Wahn genannt würde, aber gleich auch seine Verwahrungsanstalt, und wir wissen nicht: leiden wir an einem Zuviel oder einem Zuwenig.« Musils Romanfigur Ulrich folgt in »Der Mann ohne Eigenschaften« einem Lustmord-Prozess, der sich als realer Fall im Sommer 1910 in Wien ereignete und in den Zeitungen ausführlich berichtet wurde. Im Roman ist es der Fall Moosbrugger. In dieser Figur, in diesem Mörder kulminiert für Musil die Essenz der damaligen Zeit: »Wenn die Menschheit als Ganzes träumen könnte, müsste Moosbrugger entstehen.«

Bei Nicola Lagioia ist es eine Zeitungsnotiz, die ihn – ähnlich wie Truman Capote damals 1959 mit einer Meldung über eine ermordete Farmersfamilie in Kansas – auf die Spur setzt: »Grauen am Stadtrand von Rom. In einer Wohnung in Collatino wurde ein dreiundzwanzigjähriger Junge nach stundenlanger Folter umgebracht. Für das Verbrechen gibt es augenscheinlich kein Motiv.« (La Republicca, 6. März 2016)
Zwei junge Männer aus sogenanntem guten Hause, Manuel Foffo (29) und Marco Prato (30), lockten den 23jährigen Luca Varani in eine Wohnung, setzten ihn unter Drogen und folterten ihn zu Tode. Scheinbar ohne Motiv. In seiner Vernehmung meinte Manuel Foffo, er und sein Komplize und Freund hätten einfach einmal jemand töten wollen »per vedere l’effetto che fa« – um zu sehen, wie es ist.
Schuldig, richtig schuldig, fühlen sich die Beiden nicht. Es sei eben passiert. Keiner habe es wirklich gewollt oder geplant. Und es sei auch nichts Persönliches gewesen. »Unser Leben war gerade so absurd, dass es gar keine Rolle spielte, wer der Typ war«, erinnert sich Manuel. Jeden Tag nach der Tat erzählen sie eine andere Geschichte, entschuldigen und beschuldigen sich gegenseitig – und vor allem die Welt. Es bleibt eine Tat, für die niemand die Verantwortung übernimmt. Den Autor Nicola Lagioia macht das verrückt. Wühlt ihn auf. Stützt ihn in Abgründe. Auch eigene.

Hier vier Zitate aus dem Buch: »Die Anerkennung der eigenen Verantwortung bei einer schändlichen Tat wurde auf emotionaler Ebene zu einer unerträglichen Prüfung. Niemand brachte es mehr fertig, sich eine Schuld zuzuschreiben, niemand gestand sich selbst die Möglichkeit des Bösen ein. War das der Narzissmus der Massen? War es die Angst vor der sozialen Ächtung, die den Pranger zu ihrem liebsten Schauspiel erkoren hatte? So rückten an die Stelle der schuldbewussten Straftäter die ahnungslosen Mörder, die ehrlichen Lügner, die treuen Verräter, die barmherzigen Diebe, die verantwortungslosen Gauner. Es war nicht mehr der Mensch, der das Messer hineinrammt und weiß, was er tut, sondern der Kriminelle, der sich wundert, als solcher wahrgenommen zu werden…« Und weiter: »Seit dunkler Vorzeit kauert in uns ein Schatten. Den Schwächsten zerstören. Oder den Stärksten schwächen, um ihn dann zu zerstören. Gewalt als Überlebensgarantie. Zuschlagen, um der Angst zu entkommen, selbst getroffen zu werden. Sich ohnmächtig fühlen und den anderen in Ohnmacht zu stürzen. Sich in Gefahr wähnen und den anderen in Gefahr bringen. Sich wie ein Nichts fühlen und den anderen vernichten. Dieser Schwäche, dieser atavistischen Angst nachzugeben, bedeutete, eine Wahl zu treffen. Genau hier musste man die individuelle Verantwortung wieder wachrufen…«

Nicola Lagioia weiß: Schließlich leben wir »in einer von tausend Umfragen und Statistiken unablässig analysierten, ausgeloteten, durchsiebten Welt, in der es immer schwerer wird zu begreifen, wer wirklich für etwas verantwortlich ist.« Die Wirtschaft bricht zusammen. Wer ist schuld? Die Erde wird vom Klimawandel bedroht. Gibt es dafür eindeutige Verantwortlichkeiten? »Es ist paradox, dass es in einer Zeit, in der sich die wesentlichen Veränderungen auf diesem Planeten unserem Verhalten zuschreiben lassen, zur schwierigsten Aufgabe überhaupt geworden ist, die Wirkung auf ihren Ursprung zurückzuführen, und das vor allem auf menschlicher, individueller Ebene.“
Ein Junge wird von zwei anderen in eine Wohnung gelockt und tot wieder herausgetragen. Ist es möglich, fragt sich Lagioia, dieses Verbrechen ganz klassisch den beiden jungen Männern anzulasten – mitsamt dem ganzen Komplex von Schuld und Strafe –, oder muss man sich mit dem Gedanken abfinden, in eine vollständig neue Zeit und Welt eingetreten zu sein, in der diese Prinzipien nichts mehr gelten? Auf Seite 498, kurz vor Ende, thematisiert der Autor sein Trauma. Er fühlt sich schuldig. »Schuldig, weil ich 45 Jahre alt bin und er nicht einmal 30. Eine generationelle, eine objektive Schuld. Die Erwachsenen sind immer Schuld, wenn junge Leute in einer Welt leben, die widerlich ist. Wessen Verantwortung sollte es sonst sein?«

Alf Mayer / Foto: © Chiara Pasqualini
Nicola Lagioia: Die Stadt der Lebenden (La cittá die vivi, 2020). Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Verlag btb, München 2023. 510 Seiten, Hardcover, 25 Euro.

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