Aber zum großen Glück gibt es einen André Meyer im Ensemble. Der kann aus dem Stand heraus mit seiner Darstellung des Eddie Carbone an die der Karl Maldens, Raf Vallones, Lee J. Cobbs anknüpfen, die in den 1950er Jahren diese und weitere Figuren aus dem legendären Kosmos von Elia Kazan und Arthur Miller zum Leben erweckt hatten. Ein großes Glück für die Theaterlandschaft, dass es diesen Kosmos überhaupt gab und gibt. Der virtuose Dramenarchitekt, geschult an Hendrik Ibsen und Freud‘scher Psychoanalyse, erschuf lebendige, von seiner Empathie getragene Theaterfiguren aus einem dichten Gewebe aus politischen und sozialen Themen: illegale Einwanderung, Ausbeutung, Korruption, Verrat. Er sah in dem grausamen Unterfutter des American Dream antikischen Tragödienstoff; hier in dem Schicksal illegaler italienischer Hafenarbeiter. Sprachlich unterkühlt geschrieben, was die Empathie mit den Figuren umso deutlicher hervortreten ließ: Es ist das System, dass die Leute kaputt macht. Und ein Glück, wie gesagt, dass André Meyer diesen Menschen Eddie Carbone genau so spielen kann: So zart, so verletzlich, so brutal, so liebenswert, so halsstarrig, so verletzt, aber auch so groß.
Ansonsten: Nein, für diese Inszenierung seines Stückes durch Eric de Vroedt ist Arthur Miller bestimmt nicht wochenlang durch Sizilien und Kalabrien gereist, um etwas über das Schicksal der dort verbliebenen Frauen und Kinder von italienischen Einwanderern in die USA zu erfahren. Er war ein unnachgiebiger Rechercheur seiner Stücke – er baute sie auf felsenfeste Analysen und Befragungen der nordamerikanischen Gesellschaft auf, legte ihre politischen Strukturen bloß. Für »Ein Blick von der Brücke«, das er zunächst »Italienische Tragödie« taufte, reiste er in Begleitung eines jungen Gewerkschaftsaktivisten ins Nachkriegsitalien, sah den Hunger, sah das Darben. Seine Stücke sind, so möchte man argumentieren, wegen dieser Qualität, den Menschen sehen zu wollen, wie er ist, ewig und universell.
All diese investigative Sorgfalt hat der niederländische Regisseur Eric de Vroedt für seine Interpretation zur Seite geschoben. Für ihn steht nicht der Zwiespalt der nur mit patriarchalen Verhältnissen vertrauten, bitterarmen Einwanderer und dem US-Gesellschaftssystem im Mittelpunkt, nicht süditalienische Blutrache gegen die aus einer Demokratie geborenen Gesetzeslandschaft, sondern eine familiäre Verstrickung, die sich aber doch genau aus diesen Gegensätzen speist. Aber das interessiert ihn nicht. Schade. Er hat die Hafenarbeiter aus Brooklyn-Red Hook, dem wild-berüchtigten Hafen- und Einwanderungsviertel, aus seiner Inszenierung verbannt und damit Eddies ideelle Heimat. Nur Heidi Ecks darf sich mal kurz einen Parka überstülpen, um einen Kumpel zu spielen. Völlig überflüssig und irgendwie armselig. Aus dem armen Italien lässt er zwei Typen anreisen, die Bella Ciao schmettern und einen Latte Macchiato wünschen. Dazu muss Arash Nayebbandi ein bisschen aussehen als habe Bill Kaulitz Pate gestanden, was es auch nicht besser macht, im Gegenteil. Also die Migrantengeschichte wird denunziert und dann liegen gelassen. Eigentlich ist das aber ganz gut, mehr kalauernde Witze auf Kosten von deren Schicksalen wären mir auf den Magen geschlagen. Nur dass »Ein Blick von der Brücke« halt genau davon erzählt, von Blutrache, von Ehrbegriffen, von ungebührlichem Begehren, und das kann auch Eric de Vroedt nicht unterschlagen. Das eigentliche Ende kommt dann natürlich nicht mehr ganz hin, er konstruiert es einfach um, aber so, dass der Tragödie jetzt die Tragödie fehlt. Da fragt man sich ein bisschen, was man da vorher eigentlich gesehen hat?
Also alle Hinter- und Untergründe sind gestrichen, die Figuren sind nicht mehr verortet. Sie müssen jetzt in einer grünen Polsterarena, die sich aber gut umbauen lässt, die folgende Geschichte spielen: Eddie Carbone und seine Frau Beatrice sind italienische Einwanderer der ersten Stunde und haben sich in 25 Jahren ein bescheidenes funktionierendes Leben geschaffen. Sie ziehen ihre Nichte Catherine groß, der sie einen guten Start ins Leben ermöglichen möchten. Bildung geht über alles. Da kündigen sich zwei Cousins von Beatrice an, um im Hafen von Brooklyn ihr Glück zu versuchen. Sie sind Illegale. Die Familie empfängt sie mit offenen Armen; doch als Rodolpho, der jüngere und lustigere der beiden, Catherine begehrt und sie ihn, flippt Eddie aus. Das tut er nämlich selbst – ohne es sich wirklich eingestehen zu können. Väterliche Fürsorge mischt sich hier verhängnisvoll mit erotischem Verlangen. Und so kommt es zur Bluttat. Der Anwalt – im Stück Anwältin – Alfieri kommentiert das Geschehen aus einer Rückschau heraus, immer wieder wird der Spiellauf durch ihre kommentierenden Einschübe unterbrochen. Sie verkörpert ein Gesetzeswerk, das auf demokratischen Entscheidungen beruht, Gesetze gegen das Zerstörende im Leben.
Das Programmheft zieren ein paar Plateausohlen-Pumps, genau die, auf denen Catherine herumstöckelt – wie die Monroe, diesen Kalauer kriegt Eric de Vroedt dann auch noch unter. Ach. Seine Schauspielertruppe (Nina Wolf als Catherine, Heidi Ecks als Anwältin, Christina Geiße als Beatrice, Omar El-Saeidi als Marco) lässt er dagegen ziemlich alleine, was bei einem so reduzierten Bühnenbild auch nicht so vorteilhaft ist. Und so spielen eigentlich alle außer André Mayer und Heidi Ecks, die ihre ganze Erfahrung einbringt, nur auf einem Ton, mal mehr, mal weniger geschickt modulierend. Richtige Tiefe bekommen ihre Figuren dadurch nicht. Auch das ist schade.
Eine Idee aber ist – neben dem Einsatz der vorantreibenden Musik (Remco de Jong, Florentijn Boddenijk) – richtig gut: Wenn die Schauspieler nicht grade auf der Bühne stehen, sind sie auf Bildschirmen zu sehen, wie sie auf das Geschehen blicken. Überwachung? Verrat? Ausspionieren? Das Stück entstand während der Kampagne des Komitees für unamerikanische Umtriebe unter dem republikanischen Senator Joseph Mc Carthy. Auch Elia Kazan verriet Kollegen. Arthur Miller nicht.
Zu »Ein Blick von der Brücke« am Schauspiel Frankfurt
