Zu Garry Dishers viertem Roman mit Constable Paul »Hirsch« Hirschhausen

Schon gleich im ersten Satz steht Garry Dishers Landpolizist Paul »Hirsch« Hirschhausen oben auf einem Berg, blickt hinunter auf sein Reich. Nun ja, nicht ganz. Das täte er, würde ihm dort draußen, drei Stunden nördlich von Adelaide, eine jener australischen Schaffarmen von der Größe eines europäischen Fürstentums gehören würde. Er aber ist nur ein kleiner Beamter, ein Provinz-Cop ohne viel Weisungsbefugnis, und er steht auf dem Gipfel von Desolation Hill.

»Kein besonderer Hügel – aber definitiv desolat«, verrät uns der zweite Absatz. »Von dort aus sah man bis zum Horizont hinaus auf Flecken von Salzbusch und Mallee-Gestrüpp und eine weite, ockerrote Steinwüste; hier und da standen verwelkte Wildblumen, die sich von einem der seltenen Frühlingsschauer hatten täuschen lassen. Man sah auch auf ein Abbild von Wildu, dem Geisteradler, das in das Flachland gefurcht worden war: drei Kilometer von einer Flügelspitze zur anderen und bereit sich auf seine Beute zu stürzen. Außerdem war Desolation Hill einer der letzten Orte, die Willi Van Sant aufgesucht hatte, bevor er verschwand.«
15 Buchzeilen, und wir sind vor Ort und in einem neuen Fall, sind in der Welt von Constable Hirsch. Draußen in der australischen Weite: »Weizen, Wolle, früher Kupfer, leeres Land«, wie Tobias Gohlis das einmal für die Krimibestenliste zusammengefasst hat. Ein Merino-Zuchtbock wurde erschossen, solche Delikte laufen in der Polizistenwelt nebenbei. Hirsch hat dafür gerade »Häuser abgeklappert. In dieser Gegend eine Rundreise von dreihundert Kilometern«, heißt es am Anfang nebenbei lakonisch.
»Desolation Hill« ist das vierte Buch mit Hirsch, »Bitter Wash Road«, »Hope Hill Drive« und »Barrier Highway« sind ihm vorangegangen. Zusammen bilden sie eine der besten Krimiserien der Welt – dieses Loblied singe nicht nur ich als Einzel-Kritiker. Viele Preise für den australischen Autor künden davon. Garry Disher legt seit mehr als zwanzig Jahren zuverlässig jedes Jahr einen neuen Kriminalroman vor. Und das geradezu unheimlich beständig, stets auf Weltklasse-Niveau. Ein solcher Reichtum an immens guten Büchern und Geschichten, prall und lebensecht, ist Königsklasse. Fünf Mal »Deutscher Krimi Preis« und vier Mal der australische »Ned Kelly Award«, darunter auch die Auszeichnung für sein Lebenswerk, unterstreichen das. Im deutschsprachigen Raum erscheinen seine Bücher im (gerade von C.H. Beck übernommenen) Unionsverlag, der Berliner Verlag Pulp Master verlegt ausschließlich Dishers Romane mit dem Räuber Wyatt.
Garry Disher ist so etwas wie ein Balzac unserer Tage. In seinen Büchern begegnen wir der Welt. Sie spielen in keinem »cosy« Regionalkrimi-Ambiente, sind präzise verankert im Hier und Jetzt, sind genau und bildhaft für ihren Ort – und vermutlich eben deshalb so universell. Die Figuren sind aus Fleisch und Blut, sind nuancierte Charaktere, sie leiden und lieben, hoffen und bangen. Sind fehlbar. Nach einer Disher-Lektüre ertappt man sich bei Entzugserscheinungen. Disher versteht es, Menschen und Schauplätze in nur wenigen Zeilen zum Leben zu erwecken. Diesem Erzähler zu folgen ist eine Freude.
Ich bin ja – ceterum censeo – der Ansicht, dass niemand die Qualitäten eines Autors und seine Bücher so gut kennt wie sein Übersetzer/ seine Übersetzerin. Wir Leser folgen dem Sog eines Buches, lassen uns fortreißen. Wer übersetzt aber folgt Satz für Satz, Wort für Wort in slow motion, betrachtet alles unter der Lupe, poliert wie ein Diamantenschleifer seinen Kristall.
Peter Torberg übersetzt Disher seit 2005, seit »Flugrausch«, kennt ihn also so gut wie vielleicht sonst nur sein Lektor in Melbourne bei Text Publishing. »Desolation Hill« ist der elfte Disher-Roman, den Torberg aus einem lakonischen australischen Englisch in ein schnörkellos klares Deutsch gebracht hat. »Ich bekomme aus seinen Büchern mehr über Australien mit als aus einem Reiseführer oder aus der Zeitung«, sagt Torberg. »Das ist ein Mann, der richtig schreiben gelernt hat. Es macht großen Spaß, ihn zu übersetzen.« Disher selbst hat er bei einer Lesereise in München als Gentleman erlebt, »ein sehr bescheidener, ruhiger Typ, er passt zu seinen Büchern«, sagt Torberg. »Das ist ein Autor, der seine Figuren niemals in die Pfanne haut. Das ist ein feiner Mensch, sehr sympathisch.«
Torberg, der sich mit seiner Übersetzerarbeit als »Angehöriger der holzverarbeitenden Industrie« bezeichnet und vor 35 Jahren seinen Einstieg mit Raymond Federman für Enzensbergers »Andere Bibliothek« hatte, hat weit über 170 Bücher ins Deutsche gebracht. Er freut sich, wenn auch andere Autoren ihre Übersetzer behalten »wie bei den Synchronsprechern«. Garry Disher ist sein Favorit, an ihm imponiert ihm, »dass er mit jedem Buch etwas auf die Schippe drauflegt, dass er immer noch besser wird. Wenn ein Autor sich beständig selbst übertrifft, dann ist das auch für den Übersetzer ein Fest.« Zum neuen Roman schrieb er mir gerade per Mail: »Drücken wir uns die Daumen, dass Garry noch lange weiterschreibt; er hat’s einfach drauf.«
Hirsch, das war einmal eine Figur, die eigentlich nur für einen Einzelroman gedacht war. Garry Disher liebt so etwas, er ist alles andere als ein Konfektionär. Reihentitel von der Stange abzuliefern, das wäre ihm zutiefst zuwider. Seine Figuren entwickeln, verändern und bewähren sich. Er selbst als Autor, inzwischen 75 geworden, bewahrt sich mit solchen Herausforderungen seine Neugier auf die Welt, das treibt und feuert ihn an.
Ich weiß noch, wie er mir vor Jahren bei einem Besuch auf der Mornington Peninsula südlich von Melbourne sagte, »My publisher wants me to write another Hirsch novel«. Sein Verleger wünsche sich einen weiteren Roman mit Hirsch als Hauptperson. Und er, gerade mitten in seinem Buch »Kaltes Licht« mit dem Sergeanten Alan Auhl, ein »stand-alone« voll praller Charaktere und in Melbourne angesiedelt, meinte dazu trocken: Nur, wenn ihm eine überzeugende Geschichte mit Hirsch dort draußen im Hinterland einfallen würde. Dort sei es leer, die Siedlungen klein und überschaubar. Was könne da schon passieren? Vermutlich ja immer das Gleiche, aber das sei kein Stoff für ein Buch, das ihn interessiere. Er müsse frisch bleiben als Autor, seine Charaktere müssten sich entwickeln können. Hirsch habe in seiner Ein-Mann-Polizeistation im Outback anders als Inspektor Hal Challis von der Mornington Peninsula (mit dem es insgesamt sieben Romane wurden) nicht viel Autorität und dazu kein Personal. Vielleicht würde Hirsch ja seine Prüfung zum Sergeant machen und dann eine größere Polizeistation bekommen. Aber wäre er dann noch Hirsch? So gingen wir damals auseinander.

Constable Paul »Hirsch« Hirschhausen ist ins Hinterland strafversetzt. Er war weder korrupt noch eine Petze, aber nur wenige Wochen auf seinem ersten Posten als Detective Constable entdeckte er, »dass der Rest des Teams Beweismittel fälschte und Drogen stahl. Er hatte sich dadurch zu schützen versucht, dass er jeden seiner Schritte aufzeichnete, und dennoch – ein wenig Dreck blieb an ihm hängen. Deshalb seine Degradierung zum uniformierten Polizisten und die Versetzung nach Tiverton, einem kleinen Ein-Mann-Revier im Weizen-und-Woll-Land drei Stunden nördlich von Adelaide. Hirsch, ein Stadtmensch: ein Fisch außerhalb des Wassers, dem die Ortsansässigen misstrauten und den seine Kollegen auf den Nachbarrevieren verachteten. Langsam arbeitete er sich vor, nicht nur diesen fremden neuen Ort zu entziffern, sondern auch die Verbrechen, die hier gediehen. Wie zum Beispiel die Leiche in einem Koffer neben einem Weizenfeld …«, so der Schnelldurchlauf-Rückblick im neuen Roman.
Den Ort Tiverton gibt es nicht in der Realität, ganz nahebei aber liegt Burra, wo Garry Disher am 15. August 1949 geboren wurde. Jedes Weihnachten besucht er dort immer noch Verwandte. Die Hirsch-Romane sind auch Wiederbegegnungen mit der Landschaft seiner Kindheit. Er lächelte, als ich ihm beim zweiten Treffen sagte: Hirsch ist ein wenig zu Hal Challis geworden, der ist auch der Hirte seiner Gemeinde (der letzte Roman mit ihm: »Funkloch«). Mit Hirsch, das ist die gute Nachricht, ist inzwischen schon Band Fünf in der Arbeit. Garry Disher dazu: »Hirsch hat mich nicht allein gelassen. Er hat mir immer gesagt, dass ich mit ihm noch nicht fertig bin.«

In «Desolation Road«, dem neuen Buch mit Hirsch, ist der Polizist längst in Tiverton angekommen, kennt inzwischen seine Schäfchen – oder doch nicht so ganz. Der Roman spielt mitten in der Corona-Zeit. Disher macht aus dem kleinen ländlichen Kosmos ein großartiges Buch. Übersetzer Peter Torberg ist von dem Roman hellauf begeistert. Er sagt: »Wenn ein Autor sich beständig selbst übertrifft, dann ist das auch für den Übersetzer ein Fest.«
Aber lesen Sie selbst. Lesen Sie alles von Garry Disher.

Alf Mayer / Foto: © Darren James
Garry Disher: Desolation Hill (Land’s End, 2022). Aus dem australischen Englisch von Peter Torberg. Unionsverlag, Zürich 2025. 352 Seiten, 24 €. Erscheint am 20.02.2025.
Die Constable-Hirschhausen-Romane:
Bitter Wash Road
Hope Hill Drive
Barrier Highway
Desolation Hill
Die Inspektor-Challis-Romane:
Drachenmann
Flugrausch
Schnappschuss
Beweiskette
Rostmond
Leiser Tod
Funkloch
Die Wyatt-Räuberromane:
Gier
Dreck
Hinterhalt
Willkür
Port Villa Blues
Niederschlag
Dirty Old Town
Hitze
Moder
Einzelbände:
Hinter den Inseln
Kaltes Licht
Stunde der Flut

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