Sie sitzen in den Weinbergen und träumen vom Leben. Sasa Stanisic erzählt ihre Geschichten, aber, zum Beispiel, auch die von der Witwe

Der Titel lautet: »Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne.« Nur, schon da beginnt das Problem, wo ist vorne?
Am Grabstein? Oder da, wo das Grab beginnt? Auch Stanisic stellt sich die Frage. Aber er lässt sie, für ihn typisch, auf vertrackte Weise offen.
Seit 2006, seinem ersten Roman »Wie der Soldat das Grammofon repariert« (schon der wurde in dreißig Sprachen übersetzt), ist Stanisic in unserer gegenwärtigen Literatur präsent. Ein wunderbarer Spinner, erfolgreich und zu Recht vielfach ausgezeichnet.

Das Buch beginnt mit der Erzählung »Heimat« und endet auch damit. Dazwischen liegen zehn Geschichten, die uns der Autor bittet, »der Reihe nach zu lesen«, denn irgendwie hängen sie alle miteinander zusammen.
Vier etwa 16-jährige Jugendliche mit Migrationshintergrund, vertreiben sich die Zeit oberhalb eines Weinbergs mit Steinchen werfen. Sie kommen alle aus einem hässlichen Stadtteil Heidelbergs mit viel Beton und wenig Grün. Fatih, der Türke, hat plötzlich eine großartige Idee: Wäre es nicht super, meint er, »wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe? Du gehst in den rein und probierst zehn Minuten aus der Zukunft?« Falls sie einem gefallen, loggt man sich ein, zahlt hundertdreißigtausend Mark, »weil diese zehn Minuten, die werden hundertpro irgendwann kommen.« Jeder wird im Leben mal eine bessere, vielleicht sogar recht gute Zeit haben, bloß »für manche ist das Glück bloß umständehalber spärlicher gesät«. Wie auch für Dilek. Sie arbeitet seit zwanzig Jahren als Putzhilfe bei Frau Sehner. Die Frau erzählt gerne und viel. Und Dilek hört zu. Doch dann erhascht auch sie einen Zipfel vom Glück, als nämlich, gerade beim Abstauben der Heizung mit einer Ziegenhaarbürste, die Zeit plötzlich stehen bleibt und sich Dilek bei Frau Sehner einen außergewöhnlichen Scherz zu erlauben wagt. Danach weiß Dilek genau, was sie will und vor allem, was nicht. Sie will auf keinen Fall, wie ihr Mann, irgendwann in ihre Heimat Türkei zurückkehren, um dort »glücklich zu sterben«, sie will hier und jetzt »glücklich leben«.
In einer anderen Geschichte muss Georg Horvath oft mit seinem achtjährigen Sohn Paul Memory spielen. Immer verliert er »und das machte ihn kirre«. Aber er kann auch anders.
Als sie einmal unterwegs sind in Bremen stürzen sich plötzlich eine Menge Möwen auf Pauls Pommes Frites. Dem Vater kommt im rechten Moment die rettende Idee. Als eine Straßenbahn neben ihnen hält, wirft er, kurz bevor sich die Türen wieder schließen, den Rest der Pommes Frites in die Bahn, ein Schwarm von Möwen fliegt hinterher.
Stanisics Geschichten leben von solchen Einfällen. Sie sind voller Übermut und wahnwitziger Ideen. Oft greift der Autor in die Handlung ein, spricht den Leser direkt an. Es gibt verschiedene Erzählebenen, ständig vermischen sich Realität und Fiktion und immer könnte das Leben durch einen puren Zufall in eine andere Richtung gelenkt werden oder die Geschichte endet mit einer überraschenden Pointe. In der titelgebenden Erzählung beschreibt der Autor eine einsame Witwe, deren täglicher Höhepunkt der Gang zum Grab ihres Mannes ist. Auch sie bekommt die Möglichkeit, noch ein bisschen Glück zu erleben und etwas Neues anzufangen. Das ist anrührend, melancholisch, manchmal etwas traurig, aber nie hören Stanisics Protagonisten auf zu träumen. Das Buch beschreibt auch seinen eigenen Werdegang zum Schriftsteller. In der Schule lernt er Heinrich Heine kennen und ist beeindruckt von dessen Sehnsucht nach Freiheit und Veränderung. Wie Heine hätte er die Gegenwart »oft am liebsten verlassen. Wäre lieber woanders gewesen. Woanders und vor allem wer anders«. Besonders dann, wenn die Jungen von Polizisten angehalten wurden, nur weil sie ausländisch aussahen. In dem Viertel, in dem er aufwuchs, »reichte es, unterwegs zu sein, um verdächtig zu sein. Hattest du dunklere Haut, fuhr keine Streife an dir vorbei«. Sasa hasste es: »mich schuldig zu fühlen vor den Bullen, ohne mich schuldig gemacht zu haben«. Daraus entspringen die anderen, geträumten Lebensentwürfe. Denn das ist der Lebensnerv der Literatur.
Sasa Stanisic hat es geschafft. Er ist einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller geworden. Im Sommer 2023 kehrt er an den Ort zurück, an dem er aufwuchs. Zu einer Lesung in Heidelberg. Damit schließt sich der Kreis. Sein Buch ist zu Recht auf der Spiegelbestsellerliste gelandet. Eben nicht nur gut, sondern erfolgreich dazu.

Sigrid Lüdke-Haertel / Foto: © Magnus Terhorst
Sasa Stanisic: »Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne«
Luchterhand Verlag, München, 2024, 256 S., 24 €

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert